Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
zu haben, anstatt seinen Harn vertragsgemäß zu halten und zur Untersuchung abzuliefern. Der Doktor ist sehr empört, obwohl er als wissenschaftlich kaltblütiger Mensch gelten möchte. Woyzeck versucht sich herauszureden, indem er in vertraulicher Weise seine unklaren Ideen von der menschlichen Natur und den Geheimnissen der Welt auszubreiten beginnt. Der Doktor diagnostiziert eine zeitweise geistige Verwirrung, zeigt sich ob des interessanten Falles versöhnt und verspricht Woyzeck eine Zulage.
Szene 9. Der Hauptmann und der Doktor gehen zusammen eine Straße hinunter, stellen im Gespräch nochmals ihre philosophischen bzw. wissenschaftlichen fixen Ideen zur Schau und machen sich übereinander lustig. Den vorbeieilenden Woyzeck hält der Hauptmann an und macht boshafte Andeutungen auf das Verhältnis Maries mit dem Tambourmajor. Woyzeck reagiert tief betroffen und bittet den Hauptmann, mit ihm armem Teufel, der sonst nichts auf der Welt habe, keinen Spaß zu treiben. Der Doktor registriert mit kaltem Vergnügen die äußerlichen Anzeichen von Woyzecks Erregung. Aufgewühlt entfernt sich Woyzeck. Er muss über das Mitgeteilte nachdenken.
Szene 10. Im »Hof des Professors« (seinerzeit hielten die Universitätslehrer ihre Lehrveranstaltungen oft in ihren Privatwohnungen ab) haben sich Studenten versammelt. Der Professor will ihnen ein Experiment mit einer Katze vorführen, wobei Woyzeck ihm assistiert. Der Doktor ist auch zugegen, fordert Woyzeck auf, für die Studenten mit den Ohren zu wackeln, macht sie auf den schlechten Allgemeinzustand von Woyzeck aufmerksam und stellt fest, dass Woyzecks Haare aufgrund der Erbsendiät ganz dünn geworden sind.
Szene 11. Es ist Sonntag und schönes Wetter, Woyzeck und Andres tun Dienst auf der Wachtstube. In zwei Gasthäusern vor der Stadt ist Tanz und Musik, welche offenbar herüberklingt. Woyzeck lässt das keine Ruhe, er muss hinaus.
Szene 12. Im Wirtshaus wird bei offenen Fenstern getanzt. Vor dem Haus wird gesungen, zwei Handwerksburschen führen das große Wort, einer von ihnen predigt ironisch über die Bestimmung des Menschen und die Vollkommenheit der Welt. Woyzeck stellt sich ans Fenster und sieht Marie und den Tambourmajor vorbeitanzen, die ihn nicht bemerken. Erschrocken sinkt er auf eine Bank. Die »Unzucht« »am hellen Tag« lässt ihn die Fassung verlieren.
Szene 13. Auf dem freien Feld führt Woyzeck in höchster Aufgebrachtheit ein Selbstgespräch. Die Musik und der Tanz dröhnen ihm noch in den Ohren. Dann hört er Stimmen aus dem Boden und im Wind. Sie fordern ihn auf, Marie zu erstechen.
Szene 14. In der Nacht: Andres und Woyzeck teilen ein Bett. Woyzeck weckt Andres, da ihn immer noch die Tanzmusik verfolgt und Stimmen aus der Wand auf ihn einreden. Andres möchte weiterschlafen. Woyzeck sagt, es ziehe ihm zwischen den Augen wie ein Messer. Andres hält das für eine Fieberphantasie und rät, die heraufziehende Krankheit mit Schnaps zu unterdrücken.
Szene 15. Im Wirtshaus tut der betrunkene Tambourmajor mit seiner Männlichkeit groß und lädt Woyzeck auf rüde Art zum Trinken ein. Als der darauf nicht eingeht, ringt der Tambourmajor ihn nieder und demütigt ihn mit Worten. Woyzeck blutet. »Der hat sein Fett«, meint einer der Zuschauer. Woyzeck, erschöpft zitternd auf einer Bank sitzend, sagt vor sich hin: »Eins nach dem andern.«
Szene 16. Woyzeck kauft einem jüdischen Kleinhändler ein Messer ab.
Szene 17. Marie blättert in der Bibel und stößt auf Textstellen, die ihren Betrug an Woyzeck kommentieren. Ihr Gewissen quält sie, und dennoch kann sie das Verhältnis mit dem Tambourmajor nicht beenden. Der Anblick ihres Kindes versetzt ihr einen Stich ins Herz. Am Boden liegt ein nicht näher charakterisierter »Narr«, murmelt Märchenfetzen, nimmt das Kind an sich und verstummt. Woyzeck ist weder gestern noch heute gekommen. Maries Empfindung zufolge ist »alles tot«.
Szene 18. In der Kaserne verschenkt Woyzeck seinen armseligen Privatbesitz an Andres, der befremdet alles annimmt, ihm aber weiterhin zuredet, sich krank zu melden und sein Fieber mit Schnaps zu kurieren.
Szene 19. Marie hält sich mit Kindern vor der Haustür auf. Die Kinder wollen, dass Marie ihnen ihre Abzählreime vorsingt. Marie zählt ab und fordert die Großmutter – wessen Großmutter, ist unklar – auf, zu erzählen. Diese erzählt ein Märchen von einem armen Waisenkind, das ganz allein auf der Welt und im Weltall ist und überall, wo es hinkommt, feststellen
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