Georg Büchner, "Woyzeck" - Textausgabe + Lektüreschlüssel
drangsaliert wird (welcher Zusammenhang Woyzeck selbst, dem ungebildeten unbeholfenen Menschen, sicher verborgen bleibt), legt sich über Woyzecks Wahnbilder. Umso tragischer wirkt es, dass gerade diese Szene mit dem Flirt zwischen Marie und dem Tambourmajor zur Initialzündung der Katastrophe wird. Diese Wirkung wird dadurch verstärkt, dass Woyzeck sich in eben der folgenden Szene 4, in der er Marie mit den Geschenken des anderen Mannes überrascht, als gewissenhafter Ernährer der Familie und als liebevoller und aufmerksamer Vater zeigt. Kennzeichnend ist dabei, dass er sich seinem Kind zuwendet, als es schläft. Es scheint, als wüsste er, dass er verstörend auf andere wirkt, und als ob er eine Scheu habe, mit seinem kleinen Sohn umzugehen (den er in Szene 2 keines Blickes gewürdigt hat). In Szene 5 vertreibt der Hauptmann, während Woyzeck ihn rasiert, sich aus Langeweile und aus Gehässigkeit damit die Zeit, Woyzeck wegen des unmoralischen Lebens, das er führe, ein schlechtes Gewissen zu machen. Woyzeck versucht sich zu verteidigen, akzeptiert aber letztlich den moralischen Kodex, dem er selbst, wie er durchaus weiß, nicht gerecht werden kann, weil die Moral für die reichen Leute gemacht ist: »Es muss was Schöns sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.« Dieser offene innere Zwiespalt steht exemplarisch für die gesellschaftlichen Ursachen von Woyzecks seelischer Störung.
In Szene 7 stellt Woyzeck Marie auf der Straße zur Rede und es wird deutlich, wie ihm auch hier die Sprache fehlt, seinen Gedanken und Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Er fühlt sich nicht in der Lage, Marie im Gespräch zu überführen. Er müsste ihr Unrecht sehen, er müsste es greifen können mit den Händen! Aufgrund seiner Unbeholfenheit gewinnt Marie in der verbalen Auseinandersetzung rasch die Oberhand. Szene 8 zeigt Woyzeck als Objekt eines Menschenversuchs im Dienste der Wissenschaft (vgl. dazu: 6. Interpretation ): als jemanden, der nicht einmal mehr das Recht hat, zu urinieren, wenn ihm danach ist. Er ist so arm, dass er nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seinen Körper und seinen »freien Willen« (von dem der Doktor verlangt, dass er ihn vertragsgemäß einsetze, also seinen Harndrang zurückhalte) verkauft hat. Der Doktor vergleicht ihn, beiläufig und bedenkenlos, mit einem Hund. Auf des Doktors wissenschaftlich verbrämte Vorhaltungen hin versucht sich Woyzeck wiederum zu rechtfertigen, indem er selbst zu einer quasi-philosophischen Erklärung anhebt, mit der er sofort stecken bleibt; sehr zum Vergnügen des Doktors, der ihm eine schön ausgeprägte Geistesverwirrung bescheinigt.
Auf solche Weise als Labortier und interessanter Irrer wahrgenommen zu werden trägt wesentlich zu Woyzecks Psychose bei, die im Übrigen auch durch das Ernährungsexperiment, dem Woyzeck unterzogen wird, mitverursacht erscheint.
Szene 9 zeigt, wie Woyzeck durch den boshaft geförderten Verdacht gegen Marie der Boden unter den Füßen weggezogen wird: »Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, – und hab sonst nichts – auf der Welt Herr Hauptmann, wenn Sie Spaß machen – «. Seine Verzweiflung macht sich sofort in einem gewalttätigen Bild Luft: Er äußert die »Lust«, einen Kloben, einen eisernen Haken, in den »schönen, festen grauen Himmel« (der also verschlossen, undurchschaubar ist) einzuschlagen und sich daran aufzuhängen. (Dieses Bild bestätigt den Eindruck, dass er den Boden unter den Füßen verloren hat.) Noch wendet sich die Gewaltphantasie gegen sich selbst. Später wendet sich die Gewalt gegen Marie. Dass sie sich nicht gegen diejenigen wendet, die ihn ausnutzen und vorsätzlich quälen, versteht sich nach Lage der geschilderten Verhältnisse von selbst.
Szene 10 knüpft inhaltlich an Szene 8 an. Woyzeck wird vom Doktor nun auch in größerer Runde – vor den Studenten eines Professors, für den er offenbar ebenfalls als Handlanger tätig ist – als menschliches Versuchstier vorgeführt und gedemütigt.
Szene 11 veranschaulicht Woyzecks innere Unruhe (»Ich muss hinaus«). In Szene 12 wird deutlich, wie Woyzeck an dem Anblick der mit dem Tambourmajor vor seinen Augen vorbeitanzenden Marie und ihrer ausgelassenen Selbstvergessenheit (»immer zu, immer zu«) innerlich erstickt. Zwanghaft wiederholt er Maries Ausruf, den er mit allgemeiner zügelloser Unzucht assoziiert, der ihn verfolgt und der sich ihm zu einer Aufforderung verwandelt, seine Geliebte zu töten (Szene 13). Erst
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