Geräusch einer Schnecke beim Essen
aufgehängte Wäsche zu sehen: Vor den Gelb-, Orange- und Rottönen hoben sich die blauen Laken und die Nachthemden, deren Ärmel zu den Blumen hinunterreichten, sehr schön ab.
An meinem zweiten Morgen mit der Schnecke entdeckte ich wieder ein quadratisches Loch, diesmal in einer neben meinem Bett liegenden Liste. Mit jedem weiteren Morgen tauchten weitere Löcher auf. Ihre quadratische Form verblüffte mich nach wie vor. Meine Freunde waren überrascht und amüsiert, wenn sie von mir eine Postkarte mit einem kleinen Loch erhielten, das mit einem Pfeil und dem hingekritzelten Kommentar versehen war: «Von meiner Schnecke gefressen.»
Mir dämmerte, dass die Schnecke etwas Richtiges zu fressen brauchte. Normalerweise ernährte sie sich vermutlich nicht von Briefen und Umschlägen. In einer Vase neben meinem Bett standen ein paar längst verwelkte Blumen. Eines Abends legte ich einige der welken Blüten in den Untersetzer des Veilchentopfs. Die Schnecke war wach. Sie kroch den Topf hinunter, inspizierte die Gabe interessiert und machte sich daran, eine der Blüten zu verzehren. In kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit begann ein Blütenblatt zu verschwinden. Ich horchte genau hin. Ich konnte hören , wie sie fraß. Es klang, als mampfte jemand sehr Kleines unablässig Selleriestangen. Gebannt sah ich zu, wie die Schnecke im Lauf einer Stunde systematisch ein komplettes purpurrotes Blütenblatt verspeiste.
Das leise, anheimelnde Geräusch der Schnecke beim Fressen gab mir ein Gefühl von Gemeinschaft, von Zusammenleben. Und es freute mich, dass ich die welken Blumen, die neben meinem Bett standen, weiterverwerten konnte, um ein bedürftiges kleines Lebewesen damit zu ernähren. Ich für meinen Teil mochte meinen Salat ja lieber frisch, aber der Schnecke war vergammelter Salat eindeutig lieber, denn an den lebenden Veilchen, in deren Schutz sie schlief, hatte sie noch kein einziges Mal geknabbert. Man muss die Vorlieben anderer Lebewesen respektieren, egal wie groß oder klein sie sind, und das tat ich mit Freuden.
Das Studio, in dem ich untergebracht war, hatte viele Fenster und einen schönen Ausblick auf eine Salzwiese. Doch die Fenster waren weit von meinem Bett entfernt, und ich konnte mich nicht aufsetzen, um hinauszuschauen. Licht fiel durch die Fenster zwar herein, aber die Welt, die sie umrahmten, lag außerhalb meines Blickfeldes. Anders als in meinem Bauernhaus, das voller Farben war, erwachte ich hier jeden Morgen in einem Raum, dessen Wände und Decke vollkommen weiß waren – ich fühlte mich in einer kahlen weißen Kiste eingesperrt.
In den ersten Jahren meiner Krankheit hatte ich unzählige Stunden auf einer Bettcouch in meinem Bauernhaus verbracht, das in den 1830er Jahren erbaut wurde, und zu den von Hand behauenen Deckenbalken hinaufgeschaut. Ihre warmen, goldbraunen Farbtöne waren Balsam für meine Seele gewesen. Die Astlöcher erzählten Geschichten von Bäumen und einstiger Wildnis, und die quadratischen Nagelköpfe, die hier und da herausragten, hatten einmal einen Zweck erfüllt. Sämtliche Zimmer im Haus waren mit einer Kalk-Kasein-Farbe gestrichen. In dem Zimmer, in dem ich lag, war es ein dunkles Blau, wandte ich den Kopf, konnte ich Rot in der Küche, Grün im Bad und ein ruhiges Grau im Wohnzimmer sehen.
Die Bettcouch bei mir zu Hause stand direkt neben dem Fenster, so dass ich hinausschauen konnte, ohne mich aufrichten zu müssen. Im Sommer sah ich meinen trotz mangelnder Pflege grünenden und blühenden Staudengarten. Ich hielt Ausschau nach Freunden, die mich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto besuchen kamen und immer etwas zu erzählen hatten, und winkte ihnen nach, wenn sie wieder gingen. Wenn ich im Morgengrauen erwachte, waren draußen auf dem Feld mehrere Katzen auf der Pirsch. Ich hörte, wie meine Nachbarn einer nach dem anderen zur Arbeit fuhren. Der flache Einfallswinkel des Sonnenlichts vergrößerte sich zum Mittag hin und flachte dann zur anderen Seite wieder ab. Meine Nachbarn kehrten einer nach dem anderen zurück. Der Abend senkte sich über die Felder, im hohen Gras gingen die Katzen wieder auf die Jagd, und schließlich wurde es Nacht.
Zwar war ich dankbar für die Pflege, die ich in dem weißen Zimmer erhielt, doch ich fühlte mich dort nicht zu Hause. Nicht genug, dass mein Körper ein bizarrer, befremdlicher Ort für mich geworden war, ich hatte auch Heimweh. Ich war fern von den Dingen, die mich erfreuten, von dem urwüchsigen Wald, der mir immer
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