Geräusch einer Schnecke beim Essen
wieder Kraft gab, und dem sozialen Netzwerk, das mein Leben bereicherte.
Das Überleben hängt oft davon ab, dass man einen Lebensinhalt hat: eine Beziehung, einen Glauben, eine auf dem schmalen Grat des Möglichen balancierende Hoffnung. Oder von etwas Flüchtigerem: der Art und Weise, wie die Sonne durch eine harte, scheinbar undurchdringliche Fensterscheibe hindurch die Bettdecke wärmt oder wie der Wind, nur in der Bewegung sichtbar, die er erzeugt, so laut tost, dass man ihn durch die gut isolierten Mauern des Hauses hört.
Mehrere Wochen lang lebte die Schnecke in dem Blumentopf neben meinem Bett, schlief tagsüber und erkundete nachts die Umgebung. Morgens, wenn ich frühstückte, kroch sie wieder in den Topf zurück, um in der kleinen Mulde, die sie sich in der Erde gegraben hatte, zu schlafen. Auch wenn die Schnecke tagsüber fast immer schlief, war es beruhigend, zu den Veilchen hinüberzuschauen und unter einem Blatt die kleine runde Form auszumachen.
Abends erwachte die Schnecke, kroch mit beeindruckender Gelassenheit und Eleganz zum Rand des Topfes, linste nach unten und begutachtete erneut das fremde Terrain, das vor ihr lag. Hoheitsvoll, so als stünde sie auf einem Türmchen ihres Schlosses, erwog sie ihre Lage und bewegte dabei ihre Fühler wie zu einer fernen Melodie mal hierhin und mal dorthin.
Während ich mich zum Schlafen richtete, kroch die Schnecke in ihrem gemächlichen Tempo an der Topfwand hinunter zum Unterteller. Sie entdeckte die Blütenblätter, die ich ihr hingelegt hatte, und begann zu frühstücken.
3 . Erkundungen
In dem Maße, wie die Erkundung
vorangetrieben wird, rückt sie immer dichter
an Herz und Geist des Menschen heran.
Edward O. Wilson, Biophilia , 1984
Wenn ich nachts aufwachte, lauschte ich aufmerksam. Manchmal herrschte absolute Stille, aber manchmal hörte ich auch das beruhigende minimale Kaugeräusch der Schnecke. Mit der Taschenlampe suchte ich nach ihr, bis ihr kleiner Körper im Lichtstrahl erschien. Wenn sie gerade fraß, schaute ich, für welche der welken Blüten sie sich entschieden hatte. Meistens entfernte sie sich nicht mehr als einen Meter vom Blumentopf auf der großen Holzkiste, die mir als Nachttisch diente.
Alle paar Tage goss ich die Veilchen mit meinem Wasserglas, und das überschüssige Wasser rann in den Untersetzer. Davon erwachte die Schnecke jedes Mal. Sie kroch zum Topfrand und schaute hinunter, schwenkte in offenkundiger Freude langsam ihre Fühler und machte sich auf den Weg nach unten, um zu trinken. Manchmal begann sie danach wieder hochzukriechen, schlief jedoch auf halbem Wege ein. Ab und zu erwachte sie, streckte, ohne ihre Stellung zu verändern, den Kopf bis zum Wasser hinunter und trank ausgiebig.
Um die Veilchenwurzeln herum war etwas mehr Erde nötig, und meine Pflegerin holte welche aus dem Gemüsegarten und gab sie in den Blumentopf. Das gefiel der Schnecke gar nicht. Die nächsten paar Tage kroch sie, wenn sie von unten hochkam, jedes Mal vom Topfrand aus direkt auf ein Veilchenblatt, ohne die Gartenerde auch nur zu berühren, und hielt ihr Schläfchen hoch oben in der Blütenkrone. Etwas beschämt bat ich noch einmal um Hilfe, woraufhin die Gartenerde gegen Humus aus dem heimischen Wald der Schnecke ausgetauscht wurde. Bald schlief die Schnecke wieder unter den Veilchenblättern, in einer neuen weichen Mulde.
Die Holzkiste, auf der mein Veilchentopf stand, war in den zwanziger Jahren mit dem Hab und Gut meiner Großeltern nach Birma und wieder zurück gereist. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Missionsärzte gewesen, und mein Großvater war als Arzt wohlangesehen. Er behandelte viele Kranke und Verletzte und rettete einmal sogar einem Mann das Leben, der von einem Tiger übel zugerichtet worden war. Auch als der Lieblingselefant des Sawbwa von Kengtung kränkelte, wurde mein Großvater gerufen. Tapfer stach er das riesige Furunkel des Elefanten auf und behandelte die schwere Infektion.
Meine Großeltern kehrten nach Neuengland zurück, und mein Großvater etablierte sich als Landarzt. Das Wohnzimmer war seine Praxis, dort empfing er seine Patienten. Wenn ich als Kind zu Besuch kam, hatte ich immer panische Angst, er könnte mich husten hören. Ein Kitzeln im Hals oder auch nur ein Anflug von Blässe, und schon eilte er zu einem großen Glas mit grausig langen Zungenspateln und rammte mir einen davon in meine würgende Kehle. Doch wenn er zu einem Patienten gerufen wurde, waren seine ersten
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