Gerissen: Thriller (German Edition)
auf den Tisch, zog die Luke mit der Klappleiter herunter und kletterte aufs Dach. Das einzig Gute an Apartment fünf, aber so gut, dass sie den Vertrag unterschrieben hatte, obgleich es mehr kostete, als sie sich leisten konnte.
Ivy stand auf ihrem Dach und blickte nach Westen. Über die Dächer und den Fluss: Manhattan. Ihr fehlten die Worte, diesen Ausblick zu beschreiben. Vielleicht konnten Filme so etwas besser. Aber was ein Film nicht einfangen konnte, zumindest keiner der Filme, die Ivy gesehen hatte, war die Verwundbarkeit. Sie erkannte das jetzt sehr deutlich – die ganze Skyline konnte einfach so verschwinden, wie mittlerweile jeder begriffen hatte, jedoch keine Kamera jemals zu zeigen in der Lage war. Eine tragische Pracht, um nicht zu sagen sinnlos, wie … Ozymandias. Moment mal. Das hatte Shelley schon probiert. Vielleicht irrte sie sich, vielleicht konnte ein wirklich guter Autor dennoch …
In diesem Augenblick, die erleuchtete Skyline Manhattans vor sich, sogar doppelt, verschwommen gespiegelt vom Wasser, und eine sanfte Septemberbrise auf ihrer Haut, sanft und warm, aber diese Wärme hatte etwas Unbeständiges, gleichermaßen Verletzliches, ja, das war es, die Antworten auf die Septembernacht und die Skyline-Fragen stellten sich als ein und dieselbe heraus – in diesem Moment hatte Ivy den Einfall für eine völlig neue Geschichte.
Eine Geschichte über einen Immigranten, in Stings Worten einen legal alien , doch dieser stellte fest, dass er sich in einen Neandertaler verwandelte. Klaute sie von Dragan? Nein. Wenn überhaupt, klaute sie eher Dragan selbst. Aber so funktionierte Kunst nun mal. Sie hatte etwas Brutales, eine Brutalität, wie ihr plötzlich bewusst wurde, die sich häufig in den Gesichtern der größten Künstler wie Picasso, Brando oder Hemingway spiegelte. Sie erinnerte sich an die Abschiedsworte von Professor Smallian an der Brown, Dozent des Fortgeschrittenenkurses und Autor dreier veröffentlichter Romane, von denen einer von der New York Times besprochen worden war: Man muss kein guter Mensch sein, um ein guter Autor zu sein – die Geschichte zeigt, dass es besser ist, wenn man keiner ist –, aber man muss das Schlechte in sich begreifen.
Ivy kehrte durch die Luke nach unten zurück, setzte sich an den Tisch und tippte den ersten Satz, der ihr in den Sinn kam. Vladek fühlte sich stark. Eine Geschichte wie diese hatte sie nie zuvor geschrieben, eine Geschichte mit magischen Elementen. Vielleicht hätte sie das tun sollen, denn diese, »Höhlenmann«, hob aus eigenem Antrieb ab und raste voran. Manchmal konnte sie kaum noch Schritt halten – wie Lucille Ball, wenn das Pralinenförderband zu schnell lief –, während sie die Worte herumzerrte und an die richtigen Stellen schob.
Ivy kam zum letzten Satz, ein Satz, von dem sie wusste, dass er seit einigen Absätzen in den Kulissen lauerte – Der Chirurg riss einen Witz, den Vladek nicht verstand –, und als sie aufblickte, war es Morgen, silbriges Licht strömte durch die beiden kleinen Fenster. Sie war gleichzeitig aufgedreht und erschöpft; konnte sich riechen. Noch einmal überarbeitete sie die Erzählung, korrigierte einige Stellen, wurde immer aufgeregter. Das hier war wirklich gut.
Oder?
Hier lag der Hase im Pfeffer: Man war nie sicher. Man brauchte eine andere Meinung. Finden Sie einen Leser, der klug und ehrlich ist, hatte Professor Smallian geraten, vorzugsweise einen Autor, der Ihnen überlegen ist – obwohl ein sowohl kluger als auch ehrlicher Autor in diesen erhabenen Höhen schwer zu finden ist. Ivy hatte Glück. Sie hatte Joel Cutler. Er war ihr zwar nicht überlegen, aber er war klug und ehrlich.
Ivy und Joel kannten sich seit ihrem ersten Jahr am Williams College. Sie hatten sich in der Lady-Ephs-Fußballmannschaft für Erstsemester kennengelernt, in der Ivy Torfrau, Joel Trainer gewesen war, später gemeinsam einen lyrischen Zyklus geschrieben, der sie nach Oxford brachte, und am Ende zusammen das Literaturmagazin herausgegeben. Sie lasen sich seit Jahren ihre Arbeiten vor, wohnten mittlerweile nur wenige Blocks voneinander entfernt und planten, zusammen ein Drehbuch zu verfassen. Ivy druckte »Höhlenmann« aus und machte sich auf den Weg.
Joel lebte in einer großen Wohnung in einem schönen Vorkriegsgebäude direkt an der Promenade, mit Blick auf den Fluss. Das Gebäude gehörte Joels Vater, ebenso wie viele Häuser in den Heights, Park Slope, Carroll Gardens. Andy, der seit dem
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