Gerissen: Thriller (German Edition)
merkte zuerst nicht, dass der erste Wachmann die Hand ausstreckte.
Sie reichte ihm ihre Tasche. Er schüttete sie über dem Tisch aus: Spiralblock, zwei Kugelschreiber, Handy, Philipp Larkin – Gesamtausgabe der Gedichte . Der Wachmann fegte Kugelschreiber und Handy auf das Tablett mit Führerschein und Autoschlüsseln, alles andere packte er zurück in die Tasche.
»Keine Kulis?«, fragte Ivy.
»In Block B ist einer mit einem Kuli niedergestochen worden – wann war das noch?«, sagte Taneesha.
»Am ersten Mai«, erwiderte der erste Wachmann. »Ins Auge. Ich weiß es noch, ich hatte Dienst.«
»Womit sollen wir denn schreiben?«, fragte Ivy.
»Und am vierten Juli und am Memorial Day auch«, sagte der erste Wachmann.
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Dann sagte Taneesha: »Laufen Sie durch, dann können wir weiter.«
Ivy trat durch den Metalldetektor. Sie versuchte es erneut ohne Ohrringe, dann ohne Ohrringe und Gürtel, schließlich ohne Ohrringe, Gürtel und Schuhe.
»Guten Flug«, wünschte der zweite Wachmann.
Drei
E in wachhabender Beamter namens Moffit saß vor der Tür zur Gefängnisbücherei. Ivy glaubte, Alkohol in seinem Atem zu riechen, aber das war selbstverständlich ausgeschlossen.
»Geh ich einfach rein?«, fragte sie.
Moffit sah zu ihr auf. Er hatte einen kleinen Schnurrbart, wie ein Fleck. Bis jetzt trugen alle männlichen Wachen, denen sie begegnet war, Schnurrbärte. Was hatte das zu bedeuten?
»Sie beißen nicht«, sagte Moffit.
Ivy ging durch die Tür.
»Außer, wenn sie es tun«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, vermutlich zu sich selbst; aber Ivy hörte ihn.
»Bin in einer Stunde zurück«, rief Taneesha hinter ihr her.
Die Bücherei war klein und sehr hell: Neonröhren, Betonwände, Zementboden, Metallregale, halb gefüllt mit abgegriffenen Büchern, die meisten davon Taschenbücher. In der Mitte des Raums war ein rechteckiger Stahltisch an den Boden geschraubt. Auf den vier Klappstühlen um den Tisch saßen vier Männer in braunen Overalls, einer an der hinteren Schmalseite, einer links, zwei rechts, die so viel Raum wie möglich zwischen sich ließen.
»Hi«, sagte Ivy. »Ich bin Ivy, die neue Leiterin der Schreibwerkstatt.«
Sie sahen sie an, aber nicht in ihre Augen. Ein Tabu.
Ivy setzte sich auf den freien Stuhl an der Schmalseite des Tisches. »Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn Sie sich selbst vorstellen würden«, schlug sie vor.
Schweigen.
Der Mann links – rotbraune Haut, tätowierte Arme, zurückgekämmtes, öliges Haar – sagte: »Vorstellen? Ich kenne diese Typen schon viel zu gut.«
Einer der Männer rechts – groß, schwarz, mit Zahnlücken – lachte. Der Mann neben ihm – klein, weiß, mit beginnender Glatze – schaute sich hastig um, kicherte dann. Wie konnten die Dinge so schnell so schieflaufen?
Der Mann am anderen Ende, schwarz, hageres Gesicht, sauber getrimmtes Ziegenbärtchen, setzte sich sehr aufrecht hin, den Blick fest auf Ivys Stirn gerichtet, und sagte: »El-Hassam.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, antwortete Ivy. »Wie lautet Ihr Vorname?«
El-Hassam schüttelte den Kopf, eine beherrschte, entschlossene Bewegung; sie hatte fast etwas Königliches. »Hier drin benutzen wir keine Vornamen«, sagte er.
Der tätowierte Mann links beugte sich vor. Seine Unterarme waren riesig, die Muskelstränge schwollen hervor. »Sie betreten den Nachnamensektor.«
»Seidel«, sagte Ivy. »Und Ihrer?«
Er zwinkerte. »Morales«, erwiderte er.
»Perkins«, sagte der große Mann. Er hatte eine tiefe, grollende Stimme.
»Balaban«, sagte der kleine weiße Typ. Seine Stimme krächzte.
»Aber Sie können Felix zu ihm sagen«, meinte Morales.
Balaban schaute nach unten, ließ fast den Kopf hängen.
»Die Ausnahme«, sagte El-Hassam, »die die Regel bestätigt.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte Morales. »Ergibt keinen Sinn.«
»Frag Miss Seidel«, sagte El-Hassam.
Was zum Teufel hieß das? Ihre allererste Chance, etwas Vernünftiges aus dem Job zu machen – und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie wirklich etwas tun wollte, innerlich tatsächlich unglaublich aufgeregt war –, und sie war drauf und dran, zu verreißen. Dann, wie durch ein Wunder, tauchte ein Erinnerungsfetzen an einen vor langer Zeit abgelegten pedantischen Freund auf, von denen es viel zu viele gegeben hatte.
»Es ist ein altes Sprichwort«, erklärte Ivy. »Aus der Zeit, als ›bestätigen‹ noch auf die Probe stellen hieß. Damit ist die
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