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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Ich habe seinen Schnurrbart gefühlte.«
    Es war die Leiche Chavals, die aus der schiefen Ebene durch die Flut heraufgeschwemmt, bis zu ihnen gekommen war. Etienne streckte den Arm aus und fühlte auch seinerseits den Schnurrbart und die plattgeschlagene Nase. Ein Schauer des Ekels und der Furcht schüttelte ihn. Von einem fürchterlichen Abscheu ergriffen, spie Katharina das Wasser aus, das ihr im Munde geblieben. Es war ihr, als habe sie Blut getrunken, als sei jetzt all das tiefe Wasser vor ihr das Blut dieses Menschen.
    »Wart',« stammelte Etienne; »ich will ihn wieder fortschicken.«
    Mit einem Fußtritte stieß er die Leiche hinweg; doch bald fühlten sie sie wieder an ihren Beinen.
    »So geh' doch zum Teufel!« rief Etienne.
    Ein drittes Mal mußte er ihn herankommen lassen. Eine Strömung schwemmte den Leichnam immer wieder heran. Chaval wollte sich nicht entfernen; er wollte ganz nahe bei ihnen sein. Es war ein furchtbarer Genösse, der die Luft vollends verpestete. An diesem Tage tranken sie nicht; sie kämpften gegen den Durst und wollten lieber sterben; erst am folgenden Tage zwang sie die Qual; sie stießen bei jedem Schluck die Leiche weg und tranken. Es war nicht der Mühe wert, ihm den Schädel zu zerschlagen, wenn er in seiner hartnäckigen Eifersucht jetzt wiederkam. Bis ans Ende werde er da sein, selbst als Leiche, um sie zu hindern beisammen zu sein.
    Noch ein Tag; und noch ein Tag. Bei jedem Kräuseln des Wassers empfing Etienne einen leichten Stoß des Mannes, den er getötet hatte; es war gleichsam die Berührung eines Nachbars mit dem Ellbogen zur Erinnerung, daß er da sei. Und jedesmal erbebte er. Unaufhörlich sah er ihn; aufgedunsen, grün, mit dem roten Schnurrbart in dem zermalmten Gesichte. Dann verwirrten sich seine Erinnerungen; er hatte ihn nicht getötet; der andere schwamm einfach da herum und wollte ihn beißen. Katharina war jetzt von endlosen Weinkrämpfen geschüttelt, nach denen sie jedesmal in eine vollständige Erschöpfung versank. Sie verfiel schließlich in einen Zustand unbezwinglicher Schlafsucht. Er weckte sie; sie stammelte unverständliche Worte und schlief sogleich wieder ein, ohne auch nur die Augenlider zu heben. Aus Furcht, daß sie in das Wasser stürzen könne, hatte er seinen Arm um ihren Leib gelegt. Jetzt antwortete er allein auf den Anruf der Kameraden. Die Schläge der Spitzhacken kamen näher; er hörte sie jetzt hinter seinem Rücken. Aber auch seine Kräfte schwanden; er hatte den Mut verloren, noch länger zu pochen. Man wußte ja, daß sie da seien; wozu sollte er sich ermüden? Es interessierte ihn nicht mehr, ob man komme oder nicht. In dem bewußtlosen Hinbrüten seines Harrens gab es Stunden, in denen er sich nicht mehr erinnerte, worauf er wartete.
    Ein tröstlicher Umstand trat ein, der sie wieder ein wenig aufrichtete. Das Wasser sank, und Chavals Leiche entfernte sich. Seit neun Tagen arbeitete man an ihrer Befreiung, und sie machten zum ersten Male einige Schritte in der Galerie, als eine furchtbare Erschütterung sie zu Boden schleuderte. Sie suchten sich und hielten sich umfangen, fast den Verstand verlierend und nicht begreifend, was geschehen war, an eine Wiederholung der Katastrophe glaubend. Aber nichts rührte sich; das Geräusch der Spitzhacken hatte aufgehört.
    Sie saßen in einem Winkel Seite an Seite, als Katharina plötzlich ein leises Lachen vernehmen ließ.
    »Draußen muß es schön sein... Komm, laß uns hinausgehen«, sprach sie.
    Etienne hatte anfänglich gegen die Verrücktheit gekämpft; allein sie schien anzustecken, seinen fester sitzenden Kopf wankend zu machen; er verlor das genaue Bewußtsein von der Wirklichkeit. Alle ihre Sinne verwirrten sich, besonders die Katharinas, die von einem Fieber geschüttelt, von einem Bedürfnis nach Worten und Gebärden ergriffen wurde. Das Sausen ihrer Ohren war zum Plätschern eines Baches, zu einem Vogelgezwitscher geworden; sie roch den starken Geruch zertretenen Grases; und sie sah ganz klar; große gelbe Flecke schwebten vor ihren Augen, so breit, daß sie sich draußen wähnte am Kanal, in den Feldern, an einem schönen, sonnenhellen Tage.
    »Wie schön warm es ist!... Nimm mich doch und laß uns beisammen bleiben; immer, ach immer!«
    Er preßte sie an sich; sie schmiegte sich in einer langen Liebkosung an ihn und fuhr in ihrem Geschwätz eines glücklichen Mädchens fort:
    »Wie dumm waren wir, so lange zu warten! Ich hätte dich sogleich mögen, aber du hast nicht

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