Das verstummen der Kraehe
1
Etwas war anders an diesem Morgen. Mit einem Ruck blieb ich stehen. Während ich mich Schritt für Schritt um die eigene Achse drehte, drückten sich winzige Steinchen in meine nackten Fußsohlen. In der Morgendämmerung betrachtete ich meine Umgebung, als sähe ich sie zum ersten Mal. Die Hofanlage am Ende einer schmalen Stichstraße beherbergte mehrere Gebäude: Das zweistöckige Wohnhaus mit weißer Fassade und dunkelroten Fensterläden, von denen einige zu dieser frühen Stunde noch geschlossen waren. Die lang gezogene Scheune mit Rundbogentor, deren obere Hälfte nachträglich mit Holzlatten verschalt und mit Fenstern ausgestattet worden war. Und schließlich das Nebengebäude, Simons Reich, in dessen Erdgeschoss noch alle Jalousien heruntergelassen waren. Nirgends brannte Licht. Alles war wie immer um diese Uhrzeit, und doch so seltsam anders.
Wann hatte mich dieses Gefühl beschlichen? Ich kehrte zu dem Augenblick zurück, als ich Simons Wohnung im ersten Stock des Nebengebäudes verlassen und leise die Tür hinter mir zugezogen hatte. Über die hölzerne Außentreppe war ich durch den Garten zum Innenhof gelaufen. Dabei hatte ich die To-do-Liste für diesen Tag vor meinem inneren Auge abgespult. Vielleicht war mir auf dem Weg etwas aufgefallen, unbewusst, im Vorübergehen. Ich wandte mich um und betrat durch den Bogen aus gelben Kletterrosen wieder den hinteren Garten, der das Areal zwischen dem Wohnhaus an der Längsseite und dem Nebengebäude an der Kopfseite des Grundstücks ausfüllte. Mein Blick wanderte von Simons Wohnungstür über die Wiese zum ehemaligen Hühnerstall, der als Geräteschuppen diente und dicht an der zwei Meter hohen Hecke stand, hinter der sich ein öffentlicher Park anschloss. Nichts. Ich ging ein paar Schritte weiter über das feuchte Gras, um auf die Terrasse des Haupthauses sehen zu können, die hinter Apfelbäumen und dem Gemüsegarten verborgen war. Auch hier nichts Ungewöhnliches.
Vielleicht hatte ich es gar nicht mit den Augen wahrgenommen. Ich spitzte die Ohren, hörte aber nur das Zwitschern der Vögel, den Hahn aus der Nachbarschaft und in der Ferne das Rauschen der A8 und A99. Der Wind trug den Duft der Kräuterbeete zu mir, Salbei, Rosmarin und Thymian.
Mit klopfendem Herzen lief ich zum zweiten Mal an diesem Morgen Richtung Wohnhaus. Und dann sah ich, was ich zuvor schon gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte: Die Kerze war erloschen. Meine Adern fühlten sich an, als würde Eiswasser durch sie hindurchfließen.
Dort, wo die hüfthohe, mit Bonsaibäumchen vollgestellte Steinmauer auf die Ecke des Wohnhauses zulief, stand zum Hof hin eine Laterne aus Glas und Metallstreben mit einer dicken weißen Kerze darin. In den vergangenen sechs Jahren waren unzählige solcher Kerzen in dieser Laterne abgebrannt worden, und das Kerzenlicht war noch nie verlöscht. Solange es brannte, gab mein Vater den Glauben daran nicht auf, dass Ben noch am Leben war. Dass mein Bruder irgendwann zurückkehren würde.
Ich hielt den Atem an und schaute zu dem Fenster im ersten Stock, hinter dem sich das Schlafzimmer meines Vaters befand. In der Regel stand er nicht vor acht Uhr auf, es gab jedoch Ausnahmen. Ich horchte, ob sich dort oben etwas tat. Dann ging ich in die Knie und schaute durch das Glas auf die Kerze, die erst zu einem Drittel verbraucht war. Der schwarze Docht war nicht im Wachs versunken, wie ich im ersten Augenblick angenommen hatte. Auch der Wind konnte die Flamme nicht gelöscht haben, die Tür der Laterne war fest verschlossen.
So leise wie möglich öffnete ich die Haustür und lief über kalten Stein in den ersten Stock, wo meine Wohnungstür der meines Vaters gegenüberlag. Sie ließ sich geräuschlos aufsperren. Die alten Holzdielen im Flur würden längst nicht so kooperativ sein. Ich verlegte mich auf einen Zickzackgang. Mittlerweile wusste ich genau, welche Stellen ich meiden musste, um ohne ein Knarren in meine Küche zu gelangen. Ich schnappte mir das Feuerzeug von der Fensterbank und lief wieder nach unten.
Als ich mich gerade zu der Laterne bückte, wurde neben mir der Fensterladen aufgestoßen.
»Was machst du da?«, wollte meine Mutter wissen.
Blitzschnell hielt ich einen Finger vor die Lippen und gestikulierte mit dem Feuerzeug Richtung Laterne.
Sie beugte sich aus dem Fenster. »Oh mein Gott«, flüsterte sie und legte sich eine Hand auf die Brust.
»Das bedeutet gar nichts!«
Ihr Blick klebte an der Laterne. »Aber …«
»Scht!« Ich öffnete die
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