Gesammelte Werke 1
Es handelte sich um einen ernstzunehmenden, staatsbedeutenden Vorfall. Womöglich würde sich der Wilde doch als Spion erweisen! Und der Herr Stabsarzt Sogu war, obzwar ein guter, ja glänzender Gardist, eben doch nur Stabsarzt. Wohingegen der rotbärtige Sef, bevor er zum Verbrecher wurde, als Kapazität auf seinem Gebiet galt. Aber jeder, sogar ein Verbrecher, und dazu einer, der sich seines Verbrechens bewusst geworden ist, will ja leben. Und den zum Tode Verurteilten gegenüber kennt das Gesetz keine Gnade: die kleinste Verfehlung und - Exekution. Auf der Stelle. So muss es sein, so ist die Zeit: Aus dem Erbarmen wird Grausamkeit, und nur in der Grausamkeit liegt wahres Erbarmen. Das Gesetz ist unerbittlich und doch weise.
»Na schön«, sagte der Herr Rittmeister. »Kann man nichts machen … Aber als Mensch …« Er blieb vor Sef stehen. »Begreifen Sie? Nicht als Fachmann, sondern als Mensch. Halten Sie ihn wirklich für verrückt?«
Sef zögerte. Dann sagte er: »Als Mensch? Hm, als Mensch - und irren ist schließlich menschlich. Also Folgendes: Ich vermute, es ist ein ausgeprägter Fall von Persönlichkeitsspaltung, mit Verdrängung und Ersetzung des eigentlichen Ich durch ein imaginäres. Als Mensch würde ich, nach meiner Lebenserfahrung, zu Phleopräparaten und Elektroschocks raten.«
Waribobu hatte heimlich mitgeschrieben, doch den Herrn Rittmeister konnte man nicht hinters Licht führen. Er nahm dem Korporal die Notizen weg und verstaute sie in einer Tasche seiner Uniformjacke. Mach-sim plapperte indessen erneut darauflos, mal an den Herrn Rittmeister, mal an Sef gewandt
- er wollte etwas, der Ärmste, irgendetwas missfiel ihm -, da öffnete sich die Tür, und Stabsarzt Sogu kam herein, vom Essen wegbeordert, wie er sich deutlich anmerken ließ.
»Ich grüße Sie, Toot«, schnarrte er mürrisch. »Worum geht’s? Sie sind gesund und munter, wie ich sehe, und das beruhigt mich … Wer ist dieser Kerl?«
»Zöglinge haben ihn im Wald aufgegriffen«, erklärte der Rittmeister. »Ich glaube, er ist verrückt.«
»Ein Simulant ist das, kein Verrückter«, knurrte der Stabsarzt und bediente sich aus der Wasserkaraffe. »Schickt ihn zurück in den Busch. Soll er arbeiten.«
»Er gehört nicht zu uns«, widersprach der Rittmeister. »Und wir wissen nicht, woher er kommt. Vielleicht wurde er von den Entarteten entführt, hat bei ihnen den Verstand verloren und ist jetzt zu uns übergelaufen.«
»Sie haben Recht«, brummte Sogu. »Man muss schon wahnsinnig sein, um zu uns überzulaufen.« Er trat an den Verhafteten heran und wollte nach dessen Augenlidern fassen. Doch der setzte wieder dieses schaurige Grinsen auf und stieß Sogu leicht zurück. »Aber, aber«, brummte der Stabsarzt und packte ihn geschickt am Ohr. »Steh still!«
Mach-sim gehorchte. Der Herr Stabsarzt zog ihm die Lider hoch, befühlte Nacken und Hals, pfiff dabei voller Bewunderung, beugte und streckte die Arme, bückte sich dann ächzend, um auf die Kniescheiben des Burschen zu schlagen, kehrte schließlich zur Karaffe zurück und genehmigte sich noch ein Glas Wasser.
»Sodbrennen«, sagte er.
Gai blickte zu Sef hinüber. Der stand etwas abseits, hatte das Gewehr gegen sein Bein gelehnt und sah betont gleichgültig zur Wand. Der Stabsarzt trank noch ein Glas Wasser und ging dann zu seinem Patienten zurück. Noch einmal tastete er und klopfte ihn ab, kontrollierte seine Zähne und boxte
ihm zweimal mit der Faust in den Leib. Danach holte er ein flaches Kästchen aus seiner Tasche, schloss das Kabel ans Stromnetz an und hielt es auf verschiedene Körperteile des Wilden.
»So …«, ächzte er, während er das Kabel einrollte. »Stumm ist er wohl auch noch?«
»Nein«, antwortete der Rittmeister. »Er redet, aber in irgendeiner Tiersprache. Uns versteht er nicht. Das hier hat er gezeichnet.«
Der Stabsarzt begutachtete die Bilder. »Aha«, sagte er. »Sehr amüsant …« Dann griff er sich den Stift des Korporals, dazu ein Formular und zeichnete eine Katze, wie Kinder das tun: aus Strichen und Kreisen. »Was sagst du dazu, Freundchen?«, fragte er den Irren und reichte ihm das Blatt.
Ohne eine Sekunde zu zögern, ließ dieser die Feder über das Papier kratzen und neben der Katze entstand ein merkwürdiges, dicht behaartes Tier mit einem furchterregenden, bösen Blick. Obwohl Gai nie so eines gesehen hatte, begriff er: Das war keine Kinderzeichnung. Sie war zu gut, einfach hervorragend. Vom bloßen Hinsehen bekam man Angst! Der Herr
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