Gesammelte Werke
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Und Viktoria ging in Sinnen und allein den Weg zurück. Zuhause tat sie still, was sie zu tun hatte, und der Tag verlief ruhig wie alle anderen. Von Zeit zu Zeit tauchte das Geschehen in ihrem Bewußtsein auf. Sie sah nach der Uhr, jetzt mußte er wohl schon dem Burschen im Gasthof seinen Koffer gegeben haben, damit er ihn auf die Bahn trage, jetzt mußte er bereits den Fahrschein für diese letzte Reise gelöst haben, – sie sah das kleine Stück Karton in der zarten Farbe des Zitronenfalters vor sich auftauchen, – dann strengte sie sich an, lange nicht an ihn zu denken, und als sie es das nächstemal wieder tat, mußte der Zug schon durch die Nacht der Bergtäler nach Süden rollen. Sie legte sich zeitig zu Bett und schlief rasch ein. Aber sie schlief leicht und ungeduldig, wie jemand, dem am nächsten Tag etwas Besonderes bevorsteht. Es war unter ihren Augenlidern eine beständige Helligkeit; gegen den Morgen zu wurde sie noch lichter und schien sich zu dehnen, sie wurde unsagbar weit; als Viktoria aufwachte, wußte sie: das Meer. Jetzt mußte er es schon vor sich sehen und hatte nichts Notwendiges auf dieser Welt mehr zu tun als seinen Entschluß auszuführen. Er wird hinaus rudern und schießen. Aber Viktoria wußte nicht wann. Sie begann zu mutmaßen und Gründe gegeneinanderzustellen. Wird er gleich von der Bahn ins Boot ...? Wird er auf den Abend warten? Wenn das Meer so ganz ruhig daliegt und wie mit großen Augen einen ansieht? ... Sie ging den ganzen Tag in einer Unruhe dahin, wie wenn beständig feine Nadeln gegen ihre Haut schlügen. Zuweilen tauchte irgendwo, – aus einem goldenen Rahmen, der an der Wand aufleuchtete, aus dem Dunkel des Treppenhauses oder aus dem weißen Leinen, an dem sie stickte, – sein Gesicht auf. Bleich und mit karmoisinroten Lippen ... verzerrt und aufgedunsen vom Wasser, ... oder bloß wie eine schwarze Locke über einer eingefallenen Stirn. Sie war noch fern von sich, aber sie schritt langsam zu sich zurück. Und als es Abend wurde, wußte sie, daß es geschehen sein mußte.
Eine tiefe Ruhe und ein Gefühl des Geheimnisses senkte sich auf sie herab. Sie zündete in ihrem Zimmer alle Lichter an und saß zwischen ihnen, reglos in der Mitte des Raumes; sie holte sein Bild aus der Lade hervor und stellte es vor sich hin. Das ganze Gemach schien ein einziges Empfinden zu sein, ein leises Klingen, wie es zur Weihnachtszeit durch ein Haus geht. Die Geräte wuchteten unverrückbar auf ihrem Platze, der Tisch und der Schrank und die Uhr an der Wand, sie waren ganz erfüllt von sich selbst und so fest in sich geschlossen wie eine geballte Faust, und doch sahen sie wie mit Augen auf und herab, als ob sie die vielen Jahre, die sie schon dastanden, nur auf diesen Abend gewartet hätten, um zueinander zu finden. Es schloß und wölbte sich etwas in die Höhe, es strömte von allen Seiten herzu und hob sich hinauf ... Viktoria hatte ein Gefühl, wie wenn ihr Leben plötzlich wie ein riesiger Raum mit schweigend flackernden Kerzen um sie stünde. Und dann wurde es wie im Märchen, Schleier sanken herab, sanft wie Schneetreiben vor beleuchteten Fensterscheiben, und Bilder ihres Lebens schienen, hineingewoben, an ihr vorüber zu treiben; ein Kindheitsduft stieg aus Kasten und Laden empor, die Lichter knisterten ... ––––––
Kinder haben noch keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken. Sie fühlte ihn ganz nahe bei sich, seit er tot war; sie fühlte ihn so nahe wie sich selbst. Seit seine Seele gestorben war, gehörte er ihren Träumen, und ihre Zärtlichkeit ging ungehindert durch ihn, wie die Wellen durch jene weichen, purpurnen Glockentiere, die im Meere schweben. Sie empfand keinen Haß mehr. Sie hatte diesen Haß empfunden, solange er lebte; solange er lebte, war er ihr eigentlich tot. Es gab einen ganz weichen, blassen Wunsch in ihr, daß er tot sein möge. Still wie ein Herbsttag, der keine Frucht mehr treibt und nichts mehr für sich erwartet. Es gab ein wahnsinnig stilles Liebesspiel, wo sie ihre Blicke leise wie Nadeln in ihn hineingleiten ließ, tiefer und tiefer, ob nicht in einem Zittern seines Lächelns, in einem Verziehen seiner Lippen, in irgend einer Bewegung der Qual etwas so herbstlich Verschenktes sich der suchenden Liebe
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