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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Gewicht von Leid und Leben zu kümmern, das jede Entscheidung schwer macht: solches hatte die Seele der Allgemeinheit mit der seinen gemeinsam; aber was in seinem Narrengehirn Traum war, Märchen, schadhafte oder sonderbare Stelle im Spiegel des Bewußtseins, die das Bild der Welt nicht zurückwarf, sondern das Licht hindurchließ, das fehlte ihr, oder es war höchstens da und dort in einem einzelnen Menschen und seiner unklaren Erregung etwas davon enthalten.
    Und was sich genau auf Moosbrugger bezog, auf diesen und keinen anderen Moosbrugger, den man auf bestimmten sechs Quadratmetern der Welt einstweilen untergebracht hatte, seine Ernährung, Überwachung, aktenmäßige Behandlung, Weiterbeförderung zum Zuchthausleben oder zum Tode, war einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Menschen übertragen, die sich ganz anders verhielt. Hier spähten Augen mißtrauisch in Ausübung ihres Dienstes, rügten Stimmen den geringsten Verstoß. Nie traten weniger als zwei Wächter bei ihm ein. Fesseln wurden ihm angelegt, wenn er über die Gänge geführt wurde. Man handelte da unter dem Einfluß einer Angst und Vorsicht, die sich dem bestimmten Moosbrugger in diesem kleinen Bezirk anhängte, aber irgendwie in seltsamem Widerspruch zu der Behandlung stand, die er im allgemeinen erfuhr. Er beschwerte sich oft über diese Vorsicht. Aber dann machte der Aufseher, der Direktor, der Arzt, der Pfaffe, wer immer seine Proteste hörte, ein unzugängliches Gesicht und antwortete ihm, seine Behandlung entspräche der Vorschrift. So war die Vorschrift nun der Ersatz für die verlorene Teilnahme der Welt, und Moosbrugger dachte: «Du hast einen langen Strick um den Hals und kannst nicht sehen, wer daran zieht.» Er war gleichsam um eine Ecke herum an der Außenwelt angebunden. Leute, die zum größeren Teil gar nicht an ihn dachten, ja nicht einmal etwas von ihm wußten oder für die er höchstens so viel bedeutete wie eine gewöhnliche Henne auf einer gewöhnlichen Dorfstraße für einen Universitätsprofessor der Zoologie, wirkten zusammen, um das Schicksal zu bereiten, das er unkörperlich an sich zerren fühlte. Ein Bürofräulein schrieb an einem Zusatz zu seinem Akt. Ein Registratur behandelte diesen nach kunstvollen Gedächtnisregeln. Ein Ministerialrat bereitete die neueste Weisung für den Strafvollzug vor. Einige Psychiater führten einen Fachstreit über die Abgrenzung bloß psychopathischer Veranlagung von bestimmten Fällen der Epilepsie und ihrer Vermischung mit anderen Krankheitsbildern. Juristen schrieben über das Verhältnis der Milderungs- zu den Minderungsgründen. Ein Bischof sprach sich gegen die allgemeine Lockerung der Sitten aus, und ein Jagdpächter klagte Bonadeas gerechtem Gatten das Überhandnehmen der Füchse, wodurch in diesem hohen Funktionär die Stimmung zugunsten der Unbeugsamkeit von Rechtsgrundsätzen verstärkt wurde.
    Aus solchen unpersönlichen Geschehnissen setzt sich in einer Weise das persönliche Geschehen zusammen, die vorläufig unbeschreiblich ist. Und wenn man Moosbruggers Fall alles individuell Romantischen entkleidete, das nur ihn und die paar Menschen anging, die er ermordet hatte, so blieb von ihm nicht mehr als ungefähr das übrig, was sich in dem Verzeichnis von zitierten Schriften ausdrückte, das Ulrichs Vater einer jüngsten Zuschrift an seinen Sohn beigelegt hatte. Ein solches Verzeichnis sieht folgendermaßen aus: AH. – AMP. – AAC. – AKA. – AP. – ASZ. – BKL. – BGK. – BUD. – CN. – DTJ. – DJZ. – FBgM. – GA. – GS. – JKV. – KBSA. – MMW. – NG. – PNW. – R. – VSgM. – WMW. – ZGS. – ZMB. – ZP. – ZSS. – Addickes a. a. O. – Aschaffenburg a. a. O. – Beling a. a. O. usw. usw. – oder in Worte übersetzt: Annales d’Hygiène Publique et de Médicine légale, hgb. v. Brouardel, Paris; Annales Médico-Psychologiques, hgb. v. Ritti ... usw. usw. in kürzesten Abkürzungen eine Seite lang. Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Man denke sich an jede dieser Abkürzungen einige Hundert oder Dutzend Druckseiten geknüpft, an jede Seite einen Mann mit zehn Fingern, der sie schreibt, an jeden Finger zehn Schüler und zehn Gegner, an jeden Schüler und Gegner zehn Finger, und an jeden Finger den zehnten Teil einer persönlichen Idee, so gewinnt man eine kleine Vorstellung von ihr. Ohne sie kann selbst der bekannte Sperling nicht vom

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