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142 - Der Bluttempel

142 - Der Bluttempel

Titel: 142 - Der Bluttempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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Die tönerne Dorfheilige, seit Jahrhunderten Mittelpunkt der Anbetung und gedanklicher Mittelpunkt aller Wünsche der Dörfler, starrte aus toten Augen auf die Prozession. Die einstmals grellbunte Bemalung war längst verblichen und hatte wenigen schwarzgrauen Schlieren Platz gemacht, die ein merkwürdiges Muster über den plumpen Körper zeichneten.
    Darüber schlangen sich – wie jedes Frühjahr – die roten Roosas.
    Das letzte Wunder, das die Babooshka bewirkt hatte, war vor mehr als eintausend Jahren geschehen. Und auch diesmal griff sie nicht ein, als die Noskopzen an der stummen Zeugin der Geschichte vorbei marschierten, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie wanderten schweren Schrittes auf ihr unterirdisches Reich zu, um ihr Opfer den Schnittern für die Erste Weihe zu übergeben.
    Bald verließen sie das Dorf, hinein in die ruländischen Wälder, ohne von den Raubtieren der Nacht belästigt zu werden. Denn selbst im hungrigsten Beutejäger existierte jener Funke Instinkt, der ihn davor warnte, diese Wesen anzugreifen.
    Über den ausgetretenen Pfad gelangte die Prozession unter monotonem Singsang und Summen schließlich bis vor das Tor, dem Eingang zum Reich. Unzählige Schlangen lagen davor, dicke und dünne, harmlose und giftige, ängstliche und aggressive. Sie alle wichen beiseite, als die schlanke Gestalt in ihrem fein gewebten Tuch mit hölzern wirkenden Schritten die Treppe erreichte. Abrupt blieb sie davor stehen.
    Der Gesang endete. Jegliches Geräusch verstummte. Die Welt hielt für kurze Zeit den Atem an.
    »Komm!«, schrie plötzlich eine schrille Stimme, zerfetzte die Ruhe. »Komm zu mir, Kind!«
    Die Frau nahm zögerlich und wie in Trance das schwarze Gespinst von ihrem Leib, ließ es gemeinsam mit den fünf filigran geschmiedeten Ketten hinter sich baumeln. Ein plötzlicher Wind fuhr durch ihr Haar, machte die Verkrampfung ihrer harten Gesichtszüge noch deutlicher.
    »Komm!«, lockte die Stimme erneut. Unzweifelhaft kam sie aus dem riesigen runden Tor, aus dessen steinerner Gesichtsfratze feiner weißer Nebel quoll.
    Die Frau streckte die Arme aus, als wolle sie nach dem merkwürdigen Dunst greifen. Stechender und betäubender Geruch breitete sich aus, umwaberte die Noskopzen, die allesamt ruhig auf ihren Plätzen ausharrten.
    »Komm!«, ertönte zum dritten Mal der Befehl, und diesmal bewegte sich die Frau. Stufe für Stufe nahm sie, zwischen den Knäueln und Haufen der Schlangen hindurch, bis sie den oberen Absatz erreichte. Sie beugte das Knie, bezeugte ihre Demut dem unsichtbaren Rufer gegenüber.
    Das steinerne Tor schob sich langsam und unter lautem Knirschen beiseite. Grelles Licht und ein weiterer Schwall weißen Nebels entwichen ins Freie.
    »Ich gehorche«, sagte das Weib mit zitternder Stimme, tat die letzten Schritte hinein in das unheilige Licht, in das Reich der Schmerzen, und entschwand aus dem Blickfeld der wartenden Noskopzen.
    Erneute Stille.
    Drückend, schwer und alles überdeckend.
    Dann der erste Schrei, als die Schnitter ihre Arbeit begannen.
    Er war lang gezogen, von nervenzerfetzender Intensität, und wurde gefolgt von weiteren, die sich jeweils an Lautstärke zu übertreffen schienen.
    Später erschöpften sie sich, gingen allmählich in ein Jammern und Krächzen über, bis auch das verstummte.
    Die Erste Weihe war vollzogen.
    ***
    Moska, auf dem Toten Platz
    Die Menschenmassen wurden von leicht bewaffneten Technos mühsam in Zaum gehalten. Jedermann war neugierig, jedermann wollte einen der wenigen öffentlichen Auftritte des geheimnisumwitterten Erzvaters sehen.
    Es war jene Art von Sensationslüsternheit, die Matt stets verachtet hatte, die aber durch und durch menschlich war.
    So, wie man zu Beginn der Neuzeit dem Henker bei seiner schaurigen Arbeit zugesehen und so, wie man später jedes noch so kleine Detail aus dem Leben eines Prominenten ans Licht gezerrt hatte, so erfreute man sich heute, Jahrhunderte nach dem Untergang der alten Welt, daran, dem Anführer der hiesigen Nosfera in die toten Augen starren zu können.
    »Nervös?«, fragte Aruula, die wie erstarrt neben Matt stand.
    Sie stützte sich schwer auf ihrem Schwert ab, das sie in das zerbröckelnde Gestein des Kopfsteinpflasters gerammt hatte.
    »Ich verstehe nicht, warum Erzvater diese öffentliche Schau abziehen will.«
    »Manchmal bist du naiver als ich, Maddrax!« Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »›Ein kluger Mensch zeigt sich stets im Licht der Sonne‹ – so sagen die Alten

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