Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
übrig gebliebene Energie ins Träumerische hinaus. Er erblickte die Möglichkeit, daß man den Gedanken, der seine Aufgabe gelöst hatte, auch auf weitaus größere Fragen anwenden könne, entwarf spielerisch die erste Phantasie einer solchen Systematik und fühlte sich in diesen Augenblicken glücklicher Entspannung sogar von der Einflüsterung Professor Schwungs versucht, doch noch zu seinem Beruf zurückzukehren und den Weg zu suchen, der zu Geltung und Einfluß führt. Als er sich aber nach wenigen Minuten dieses intellektuellen Behagens nüchtern vergegenwärtigt hatte, welche Folgen es haben würde, wenn er seinem Ehrgeiz nachgäbe und jetzt noch als Nachzügler den akademischen Weg einschlüge, begegnete es ihm zum erstenmal, daß er sich für ein Unternehmen zu alt fühlte, und seit seiner Knabenzeit hatte er diesen halb unpersönlichen Begriff der Jahre nicht als etwas empfunden, das einen selbständigen Gehalt habe, und ebensowenig bisher den Gedanken gekannt: du vermagst etwas nicht mehr zu tun!
    Als das Ulrich nun nachträglich seiner Schwester am Spätnachmittag erzählte, gebrauchte er von ungefähr das Wort Schicksal, das ihre Anteilnahme erregte. Sie wollte wissen, was «Schicksal» ist.
    «Ein Mittelding zwischen ‹Meine Zahnschmerzen› und ‹König Lears Töchter›!» erwiderte Ulrich. «Ich gehöre nicht zu den Menschen, die mit diesem Wort gern umgehn.»
    Aber für junge Menschen gehört es zum Gesang des Lebens; sie möchten ein Schicksal haben und wissen nicht, was es ist.
    Ulrich entgegnete ihr: «In späteren, besser unterrichteten Zeiten wird das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen.»
    Agathe war siebenundzwanzig. Jung genug, noch einige von den hohlen Empfindungsformen bewahrt zu haben, die man zuerst ausbildet; alt genug, schon den anderen Inhalt zu ahnen, den die Wirklichkeit einfüllt. Sie erwiderte: «Altwerden ist wohl selbst schon ein Schicksal!» und war sehr unzufrieden mit dieser Antwort, in der sich ihre jugendliche Schwermut auf eine Weise ausdrückte, die ihr nichtssagend vorkam.
    Aber ihr Bruder achtete nicht darauf und gab ein Beispiel: «Als ich Mathematiker wurde,» erzählte er «wünschte ich mir wissenschaftlichen Erfolg und setzte alle Kraft für ihn ein, wenn ich das auch nur für eine Vorstufe zu etwas anderem ansah. Und meine ersten Arbeiten haben auch wirklich – natürlich unvollkommen, wie es Anfänge immer sind – Gedanken enthalten, die damals neu waren und entweder unbemerkt blieben oder sogar auf Widerstand stießen, obwohl ich mit allem übrigen gut aufgenommen wurde. Nun könnte man es ja vielleicht Schicksal nennen, daß ich bald die Geduld verlor, hinter diesen Keil weiter noch meine volle Kraft zu setzen.»
    «Keil?» unterbrach ihn Agathe, als bereite die Aussprache dieses männlich-werktätigen Wortes unbedingt Unannehmlichkeiten. «Warum nennst du es Keil?»
    «Weil es nur das war, was ich zuerst machen wollte: ich wollte es wie einen Keil vorantreiben und verlor dann eben die Geduld. Und heute, als ich vielleicht meine letzte Arbeit abschloß, die noch in jene Zeit zurückreicht, ist es mir klar geworden, daß ich mich wahrscheinlich nicht ganz ohne Grund als den Führer einer Bewegung ansehen dürfte, wenn ich damals etwas mehr Glück gehabt oder etwas mehr Beständigkeit bewiesen hätte.»
    «Du könntest es ja noch nachholen!» meinte Agathe nun wieder. «Ein Mann wird doch nicht so leicht für etwas zu alt wie eine Frau.»
    «Nein,» erwiderte Ulrich «ich will es nicht nachholen! Denn es ist erstaunlich, aber wahr, daß sich damit sachlich – am Gang der Dinge, an der Entwicklung der Wissenschaft selbst – gar nichts geändert hätte. Ich mag meiner Zeit etwa um zehn Jahre vorausgewesen sein; aber etwas langsamer und auf anderen Wegen sind andere Leute auch ohne mich dahin gekommen, wohin ich sie höchstens etwas rascher geführt hätte, während es schon fraglich wäre, ob eine solche Veränderung meines Lebens genügt haben möchte, mich selbst inzwischen mit neuem Vorsprung über das Ziel hinauszureißen. Da hast du also ein Stück von dem, was man persönliches Schicksal nennt, aber es kommt auf etwas auffallend Unpersönliches hinaus.»
    «Überhaupt» – fuhr er fort – «widerfährt es mir, je älter ich werde, desto öfter, daß ich etwas gehaßt habe, das später und auf Umwegen trotzdem in der gleichen Richtung wie mein eigener Weg verläuft, so daß ich ihm die Daseinsberechtigung mit einem Mal

Weitere Kostenlose Bücher