Gesammelte Werke
Individualismus der heutigen Lebensart – anfangs ein Widerstand da, der einem leichten Abscheu gleicht und ein Zunahekommen, eine Verletzung der eigenen Persönlichkeit abwehrt, so lange, bis er überwunden ist, und dann bildet sich eine Gemeinschaft heraus, die einen ungewöhnlichen Ursprung zeigt wie eine Narbe. Viele Menschen geben sich nach dieser Wandlung fröhlicher, als sie sonst sind; die meisten harmloser; viele gesprächiger, fast alle freundlicher. Die Persönlichkeit ist verändert, man kann fast sagen, unter der Haut gegen eine weniger eigentümliche umgetauscht: an die Stelle des Ich ist der erste, deutlich als unbehaglich und eine Verminderung empfundene, aber doch unwiderstehliche Ansatz eines Wir getreten.»
Agathe antwortet: «Diese Abneigung bei nahem Beisammensein gibt es besonders zwischen Frauen. Ich habe mich, nie an Frauen gewöhnen können.» «Es gibt sie auch zwischen Mann und Frau» meint Ulrich. «Sie wird dort bloß von den Verpflichtungen des Liebeshandels überdeckt, die sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber gar nicht selten wachen die Verflochtenen aus diesem plötzlich auf und sehen dann je nach ihrer Art mit Staunen, Ironie oder Fluchtdrang – ein völlig fremdes Wesen sich an ihrer Seite breitmachen; ja manchen Menschen geht es noch nach vielen Jahren so. Dann können sie nicht sagen, was das Natürlichere ist: ihre Verbindung mit anderen oder das verletzte Zurückschnellen ihres Ich aus dieser Verbindung in die Einbildung seiner Einzigkeit, – liegt doch beides in unserer Natur. Und beides verwirrt sich im Begriff der Familie! Das Leben in der Familie ist nicht das volle Leben; junge Menschen fühlen sich beraubt, vermindert, nicht bei sich selbst, wenn sie im Kreis der Familie sind. Sieh dir alte, unverheiratete Töchter an: sie sind von der Familie ausgesogen und ihres Blutes beraubt worden; es sind ganz sonderbare Zwitter zwischen Ich und Wir aus ihnen entstanden.»
Ulrich hat den Brief Clarissens als eine Störung empfunden. Die sprunghaften Ausbrüche darin beunruhigen ihn weit weniger als die ruhige und fast vernünftig aussehende Arbeit, die sie tief im Innern für einen offenbar verrückten Plan leistet. Er hat sich gesagt, daß er nach seiner Rückkehr wohl mit Walter darüber werde sprechen müssen, und seither redet er mit Willen von anderem.
Agathe, ausgestreckt auf dem Diwan, hat ein Knie hochgezogen und geht lebhaft auf ihn ein: «Mit dem, was du sagst, erklärst du doch selbst, warum ich wieder heiraten mußte!» sagte sie.
«Und doch ist auch etwas an dem sogenannten ‹heiligen Gefühl der Familie› daran, an diesem Aufgehn ineinander, dem einander Dienen, der selbstlosen Bewegung in geschlossenem Kreis» – fährt Ulrich fort, ohne sich darum zu kümmern, und Agathe wundert sich darüber, daß sich seine Worte so oft von ihr wieder entfernen, wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. «Gewöhnlich ist dieses kollektive Ich ja nur ein Kollektivegoist, und dann ist starker Familiensinn das Unausstehlichste, was man sich vorzustellen vermag; ich kann mir dieses Unbedingt-für-einander-Einspringen, dieses Gemeinsam-Kämpfen und – Wundentragen aber auch als ein urangenehmes, tief in der Menschenzeit ruhendes, ja schon in der Tierherde ausgeprägtes Gefühl denken» – hört sie ihn sprechen; und sie vermag sich nicht viel dabei zu denken. Sie vermag es auch nicht beim nächsten Satz: «Dieser Zustand entartet eben leicht, wie es alle alten Zustände tun, deren Ursprung sich verloren hat.» Und erst, als er mit den Worten schließt: «Und man muß wahrscheinlich verlangen, daß die Einzelnen schon etwas besonders Ordentliches seien, wenn das Ganze, das sie bilden, nicht ein sinnloses Zerrbild werden soll!» fühlt sie sich wieder gut in seiner Nähe aufgehoben und möchte, während sie ihn ansieht, ihren Augen nicht gestatten, sich zu schließen, damit er nicht inzwischen verschwinde, weil es so wunderlich ist, daß er da sitzt und Dinge spricht, die in der Höhe verlorengehn und mit einem Mal wieder herabfallen wie ein Gummiball, der sich zwischen Ästen verfangen hat.
Die Geschwister hatten sich am Spätnachmittag im Empfangszimmer getroffen, man schrieb schon manchen Tag seit dem Begräbnis.
Dieser Salon von länglicher Form war nicht nur im Geschmack, sondern auch noch mit dem echten Hausrat des bürgerlichen Empire eingerichtet; zwischen den Fenstern hingen die hohen Rechtecke der von glatten Goldrahmen umschlossenen Spiegel, und die
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