Gesammelte Werke
sollte. – «Gewiß wird nur das daran merkwürdig sein!» wiederholte Agathe bei sich, was sie soeben gedacht hatte. In ähnlicher Art hatte sie ja auch in der Schule gelernt, so daß sie niemals wußte, ob sie dumm oder klug, willig oder unwillig sei: die Antworten, die man von ihr verlangte, prägten sich ihr mit Leichtigkeit ein, ohne daß sich ihr aber der Zweck dieser Lernfragen eröffnet hätte, gegen den sie sich von einer tiefen inneren Gleichgültigkeit geschützt fühlte. Sie war nach ihrer Erkrankung genau so gern wieder in die Schule gegangen wie vorher, und weil einer der Ärzte auf den Rat verfallen war, daß es von Vorteil sein könnte, sie der Einsamkeit des väterlichen Hauses zu entziehen und mit Gleichaltrigen zusammenzubringen, hatte man sie in ein geistliches Institut getan: sie galt auch dort für heiter und lenksam und besuchte später das Gymnasium. Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte, und weil sie trotz ihres scheinbar willigen Betragens keineswegs eine Musterschülerin war und dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das tat, was sie wollte, genoß sie die Achtung ihrer Mitschülerinnen, ja sogar jene bewundernde Neigung, die in der Schule findet, wer es sich bequem zu machen versteht. Es konnte sogar sein, daß sie sich schon ihre seltsame Kinderkrankheit so eingerichtet hatte, denn sie war eigentlich mit dieser einzigen Ausnahme immer gesund und wenig nervös gewesen. «Also einfach ein träger und wertloser Charakter!» stellte sie unsicher fest. Sie erinnerte sich, wieviel lebhafter als sie selbst ihre Freundinnen oft gegen die starre Internatszucht gemeutert und mit welchen Grundsätzen der Empörung sie ihre Vorstöße gegen die Ordnung ausgestattet hatten; soweit sie jedoch in die Lage gekommen war, es zu beobachten, waren gerade jene, die sich gegen Einzelheiten am leidenschaftlichsten aufgelehnt hatten, später mit dem Ganzen des Lebens auf das Beste ausgekommen, und es hatten sich aus diesen Mädchen gut gebettete Frauen entwickelt, die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren war. Sie war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht überzeugt, daß es besser sei, ein tätiger und guter Charakter zu sein.
Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtete, das sich das Nest vom Mann liefern läßt. Sie erinnerte sich gern an die Zeit, wo sie ihren Busen zu erstenmal das Kleid spannen gefühlt und ihre brennenden Lippen durch die kühlende Luft der Straßen getragen hatte. Aber die entwickelte erotische Geschäftigkeit der Frau, die aus der Verhüllung der Mädchenzeit hervorkommt wie ein rundes Knie aus rosa Tüll, hatte zeit ihres Lebens Verachtung in ihr erregt. Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich überzeugt wäre, so antwortete ihr ein Gefühl, daß sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben; schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wußte und das wenige, das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnisvolle, diesem Eindruck entsprechende Aktivität erschienen, einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen.
Agathe sah von der Seite Ulrich an, der ernst und steif im Wagen schaukelte; sie entsann sich, wie schwer er am ersten Abend begriffen hatte, daß sie ihrem Gatten nicht schon in der Brautnacht davongelaufen sei, obwohl sie ihn nicht mochte. Sie hatte furchtbare Ehrerbietung vor ihrem großen Bruder empfunden, solange sie auf sein Kommen wartete, aber nun lächelte sie und rief sich heimlich den Eindruck zurück, den ihr die dicken Lippen Hagauers in den ersten Monaten gemacht hatten, wenn sie sich unter den Bartborsten verliebt rundeten: das ganze Gesicht zog sich dann in dickfelligen Falten den Mundwinkeln entgegen, und sie fühlte gleich einer Sättigung: o wie häßlich ist dieser Mensch! Auch seine sanfte Lehrereitelkeit und -güte hatte sie ertragen wie eine bloß körperliche
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