Gesammelte Werke
hatte es Ulrich so gesagt, aber: «Wie kann man Menschen, die sich schlecht betragen, gut nennen?» dachte sie. «Das ist doch wirklich ein Unsinn!» und wußte: während er sie ausgesprochen hatte, war diese Behauptung, ohne daß sie dabei mehr Inhalt gehabt hätte, wunderbar gewesen! Wunderbar war kein Wort dafür: es war ihr beinahe übel vor Glück geworden, als sie diesen Satz hörte! Solche Sätze erklärten ihr ganzes Leben. Dieser Satz zum Beispiel war während ihres letzten großen Gesprächs gefallen, nach dem Begräbnis und als Professor Hagauer schon wieder abgereist war; und plötzlich war ihr bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe, und so auch damals, als sie sich einfach gedacht hatte, es werde «schon irgendwie» mit Hagauer gehn, weil er ein «guter Mensch» sei! Solche Bemerkungen machte Ulrich oft, die sie für Augenblicke ganz mit Glück oder Unglück erfüllten, obwohl man sich diese Augenblicke nicht «aufheben» konnte. Wann, fragte sich Agathe, hatte er zum Beispiel gesagt, daß er unter Umständen einen Dieb lieben könnte, einen Menschen, der gewohnheitsmäßig ehrlich sei, aber niemals? Sie konnte sich im Augenblick nicht darauf besinnen, aber das Köstliche war, daß sie sehr bald inne wurde, gar nicht er, sondern sie selbst habe das behauptet. Überhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht; bloß ohne Worte, denn so bestimmte Behauptungen hätte sie, auf sich allein angewiesen, wie sie früher war, niemals aufgestellt! Agathe, die sich zwischen den Sprüngen und Stößen des Wagens, der über holprige Vorstadtstraßen fuhr und die beiden des Sprechens Ohnmächtigen in ein Netz mechanischer Erschütterungen hüllte, bisher sehr wohlgefühlt hatte, hatte auch den Namen ihres Gatten inmitten ihrer Gedanken ohne ein anderes Gefühl gebraucht, und lediglich als eine Zeit- und Inhaltsbestimmung für diese; aber nun fuhr, ohne daß ein besonderer Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre, langsam ein unendlicher Schreck durch sie: Hagauer war ja doch leibhaftig bei ihr gewesen! Die gerechte Art, in der sie bisher an ihn gedacht hatte, verschwand, und ihre Kehle zog sich bitter zusammen.
Er war am Morgen des Begräbnisses gekommen, hatte trotz seiner Verspätung liebevoll dringlich noch den Schwiegervater zu sehen gewünscht, war zur Anatomie gegangen, hatte das Schließen des Sargs verzögert, war in einer taktvollen, ehrlichen, knapp bemessenen Weise sehr ergriffen gewesen. Nach dem Begräbnis hatte Agathe Erschöpfung vorgeschützt, und Ulrich hatte mit seinem Schwager außer Haus speisen müssen. Wie er nachher erzählte, hatte ihn Hagauers dauernde Gegenwart so rasend gemacht, wie ein zu enger Halskragen, und er hatte schon deshalb alles getan, um ihn so rasch wie möglich fortzubringen. Hagauer hatte die Absicht gehabt, zu einem Erziehungstag in die Hauptstadt zu reisen, dort noch einen Tag Vorsprachen im Ministerium und Besichtigungen zu widmen, und davor hatte er zwei Tage angesetzt, sie als aufmerksamer Gatte bei seiner Frau zu verbringen und sich um ihr Erbteil zu kümmern; der Verabredung mit seiner Schwester gemäß hatte Ulrich aber eine Geschichte erfunden, die es unmöglich erscheinen ließ, Hagauer im Wohnhaus aufzunehmen, und hatte ihm angekündigt, daß eine Unterkunft im ersten Hotel der Stadt für ihn vorgemerkt sei. Hagauer hatte, wie erwartet, gezögert; das Hotel wäre unbequem, teuer, und anstandshalber von ihm selbst zu bezahlen gewesen; andererseits ließen sich vielleicht auch zwei Tage den Vorsprachen und Besichtigungen in der Hauptstadt widmen, und wenn man in der Nacht reiste, ersparte man eine Nächtigung. Also hatte Hagauer Bedauern heuchelnd zu verstehen gegeben, daß es ihm sehr schwer falle, von Ulrichs Vorsorge Gebrauch zu machen, und schließlich seinen kaum noch abzuändernden Beschluß eröffnet, schon am Abend zu reisen. So waren nur noch die Erbfragen zu ordnen verblieben, und da lächelte nun Agathe wieder, denn auf ihren Wunsch hatte Ulrich ihrem Mann erzählt, daß das Testament erst in einigen Tagen eröffnet werden dürfe. Es sei ja Agathe da, wurde ihm gesagt, um seine Rechte zu wahren, er werde auch eine rechtsförmliche Verständigung erhalten, und was außerdem Möbel, Erinnerungsstücke und dergleichen angehe, erhebe Ulrich als Junggeselle keinerlei Anspruch, den er nicht den Wünschen seiner Schwester unterzuordnen bereit wäre. Schließlich hatte er Hagauer noch gefragt, ob er einverstanden wäre,
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