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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ihres Bruders, und beide verstanden es so, als legte sie ihm sanft die Hand auf den Mund.
    Ulrich sagte lachend: «Ich mag mich ja auch selbst nicht! Das ist die Folge, wenn man an den Menschen immer etwas auszusetzen hat. Aber auch ich muß doch etwas lieben können, und da ist eine Siamesische Schwester, die nicht ich noch sie ist, und geradesogut ich wie sie ist, offenbar der einzige Schnittpunkt von allem!»
    Er war wieder fröhlich. Und gewöhnlich riß seine Laune auch Agathe mit sich. Aber so wie in der ersten Nacht ihres Wiedersehns oder früher sprachen sie niemals mehr. Das war verschwunden wie Wolkenburgen: wenn sie statt über dem einsamen Land über den lebenerfüllten Straßen einer Stadt stehen, glaubt man nicht recht an sie. Die Ursache war vielleicht nur darin zu suchen, daß Ulrich nicht wußte, welchen Grad von Festigkeit er den Erlebnissen zuschreiben dürfe, die ihn bewegten; aber Agathe glaubte oft, er sähe nur noch eine phantastische Ausschreitung in ihnen. Und sie konnte ihm nicht beweisen, daß es anders sei: sie sprach ja immer weniger als er, sie traf das nicht und traute sich das nicht zu. Sie fühlte bloß, daß er der Entscheidung ausweiche und es nicht dürfte. So verbargen sie sich eigentlich beide in ihrem spaßhaften Glück ohne Tiefe und Schwere, und Agathe wurde davon von Tag zu Tag trauriger, obwohl sie ebensooft lachte wie ihr Bruder.
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29
    Professor Hagauer greift zur Feder
    Das änderte sich aber durch Agathens dabei so wenig berücksichtigten Gatten.
    An einem Morgen, der diese Tage der Freude beendete, erhielt sie einen schweren Brief in Kanzleiformat, der mit einer großen, runden, gelben Oblate geschlossen war, die in weißen Buchstaben den Aufdruck Kaiserlich-königliches Rudolfsgymnasium in ... trug. Aus dem Nichts entstanden augenblicklich, noch während sie das Schreiben uneröffnet in der Hand hielt, Häuser, zweistöckig, wieder: mit dem stummen Spiegeln wohlgepflegter Fenster; mit weißen Thermometern außen an den braunen Rahmen, einem in jedem Stockwerk, damit man das «Wetter erkenne; mit griechischen Giebeln und barocken Muscheln über den Fenstern, aus den Mauern tretenden Köpfen und ebensolchen mythologischen Schildwachen, die aussehen, als wären sie in der Kunsttischlerei erzeugt und als Steine angestrichen. Braun und naß liefen die Straßen durch die Stadt, so wie sie als Landstraßen hereingelaufen kamen, mit ausgefahrenen Radspuren, und die Geschäfte standen mit ihren ganz neuen Auslagen zu beiden Seiten und sahen trotzdem wie Damen vor dreißig Jahren aus, die ihre langen Röcke gehoben haben und sich nicht entschließen können, vom Gehsteig in den Dreck der Straße zu treten: Provinz in Agathes Kopf! Spuk in Agathes Kopf! Unverständliches Nicht-ganz-Verschwundensein, obwohl sie sich für immer davon gelöst zu haben glaubte! Noch unverständlicheres: Je damit verbunden gewesen zu sein?! Sie sah den Weg von ihrer Haustür längs der Wand bekannter Häuser bis zur Schule führen, den ihr Gatte Hagauer viermal des Tags zurücklegte und den sie anfangs auch oft gegangen war, Hagauer aus seinem Heim in die Arbeit begleitend, in der Zeit, wo sie sich sorgfältig keinen Tropfen des bitteren Heiltranks entgehen ließ: «Ob Hagauer jetzt wohl zu Mittag ins Hotel speisen geht?» fragte sie sich. «Ob jetzt er die Blätter vom Kalender reißt, die sonst ich alle Morgen abgenommen habe?» Alles das hatte mit einemmal wieder etwas so unsinnig Übergegenwärtiges angenommen, als ob es nie sterben könnte, und sie sah mit stillem Grauen das wohlbekannte Gefühl der Einschüchterung in sich erwachen, das aus Gleichgültigkeit bestand, aus verlorenem Mut, aus Sättigung am Häßlichen und einem Zustand der eigenen unsicheren Hauchartigkeit. Mit einer Art Begierde öffnete sie das dicke Schreiben, das ihr Gatte an sie gerichtet hatte.
    Als Professor Hagauer vom Begräbnis seines Schwiegervaters und einem kurzen Besuch der Kapitale wieder an seine Heim- und Arbeitsstätte zurückgekehrt war, hatte ihn seine Umgebung genau so aufgenommen wie allemal nach seinen kurzen Reisen; mit dem angenehmen Bewußtsein, eine Angelegenheit ordentlich erledigt zu haben und nun die Reiseschuhe mit den Hausschuhen zu vertauschen, in denen es sich doppelt so gut arbeitet, wandte er sich ihr zu. Er begab sich in seine Schule; er wurde vom Hauswart ehrerbietig begrüßt; er fühlte sich willkommen geheißen, wenn er den Lehrern begegnete, die ihm untergeben waren; in der

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