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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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plötzlich.
    «Unsinn!» behauptete Ulrich. «Was jeder von uns empfindet, ist die schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur. Ich bin Mann, du bist Frau; man sagt, daß der Mensch zu jeder Eigenschaft auch die schattenhaft angelegte oder unterdrückte Gegeneigenschaft in sich trägt: jedenfalls besitzt er die Sehnsucht nach ihr, wenn er nicht heillos mit sich selbst zufrieden ist. Dann ist also mein ans Licht gekommener Gegenmensch in dich geschlüpft, und der deine in mich, und sie fühlen sich großartig in den vertauschten Körpern, einfach weil sie vor ihrer früheren Umgebung und dem Ausblick aus ihr hinaus nicht allzuviel Achtung haben!»
    Agathe dachte: «Von allem hat er schon einmal mehr gesagt; warum schwächt er ab?»
    Was Ulrich sprach, paßte wohl zu dem Leben, das sie wie zwei Kameraden führten, die sich zuweilen, wenn ihnen gerade die Gesellschaft anderer Zeit läßt, darüber wundern, daß sie ein Mann und eine Frau, zugleich aber Zwillinge sind. Besteht ein solches Einverständnis zwischen zwei Menschen, so gewinnen ihre getrennten Beziehungen zur Welt den Reiz des unsichtbaren Eins im andern Verstecktseins, des Kleider- und Körperwechsels und des heiteren, hinter zweierlei Masken der äußeren Erscheinung versteckten Betrugs der Zweieinigen an denen, die, ihn nicht ahnen. Aber diese spielerische und allzu betonte Fröhlichkeit – wie Kinder manchmal Lärm machen, statt Lärm zu sein! – paßte nicht zu dem Ernst, dessen aus großer Höhe fallender Schatten zuweilen unbeabsichtigt das Herz der Geschwister schweigen machte. So geschah es einmal des Abends, als sie sich vor dem Zubettgehen durch Zufall nochmals sprachen und Ulrich seine Schwester im langen Schlafhemd antraf, daß er einen Scherz machen wollte und zu ihr sagte: «Vor hundert Jahren möchte ich jetzt ausgerufen haben: Mein Engel! Schade, daß dieses Wort abgekommen ist!» Da verstummte er und dachte betroffen: «Ist es nicht das einzige Wort, das ich für sie gebrauchen sollte?! Nicht Freundin, nicht Frau! Auch: Du Himmlische! hat man gesagt. Wahrscheinlich wäre es etwas lächerlich-schwungvoll, aber doch besser, als daß man überhaupt nicht den Mut hat, sich zu glauben!»
    Und Agathe dachte: «Ein Mann im Schlafanzug sieht nicht wie ein Engel aus!» Aber er sah wild und breitschultrig aus, und sie schämte sich plötzlich für den Wunsch, daß dieses von Haaren umhangene mächtige Gesicht ihre Augen verfinstern möge. Sie war in einer körperlich-unschuldigen Weise sinnlich erregt geworden; ihr Blut ging in heftigen Wellen durch den Leib und breitete sich, alle Kraft dem Inneren nehmend, in die Haut aus. Da sie nicht ein so fanatischer Mensch war wie ihr Bruder, fühlte sie, was sie fühlte. Wenn sie zärtlich war, war sie zärtlich; nicht gedankenhell oder moralisch erleuchtet, obwohl sie es an ihm ebenso liebte wie scheute. Und immer wieder, Tag für Tag, faßte Ulrich alles in den Gedanken zusammen: Im Grunde ist es ein Protest gegen das Leben! Sie gingen Arm in Arm durch die Stadt. In der Größe zu einander passend, im Alter zu einander passend, in der Gesinnung zu einander passend. Sie konnten, Seite an Seite dahinschreitend, nicht viel voneinander sehn. Große, einander angenehme Gestalten, gingen sie nur aus Freude auf die Straße und fühlten bei jedem Schritt den Hauch ihrer Berührung inmitten des sie umgebenden Fremden. Wir gehören zusammen! Diese Empfindung, die nichts weniger als ungewöhnlich ist, machte sie glücklich, und halb in ihr, halb gegen sie, sagte Ulrich: «Es ist komisch, daß wir so zufrieden damit sind, Bruder und Schwester zu sein. Für alle Welt ist das eine Allerweltsbeziehung, und wir legen etwas Besonderes hinein!?»
    Vielleicht hatte er sie damit gekränkt. Er fügte hinzu: «Ich habe es mir aber immer gewünscht. Als ich ein Knabe war, habe ich mir vorgenommen, nur eine Frau zu heiraten, die ich schon als kleines Mädchen an Kindesstatt annehmen und aufziehen werde. Ich glaube allerdings, viele Männer haben solche Einfälle, sie sind geradezu banal. Aber ich habe mich einmal als Erwachsener richtig in ein solches Kind verliebt, wenn auch nur für zwei oder drei Stunden!» Und er fuhr fort, es ihr zu erzählen: «Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt, in Begleitung ihres sehr jungen Vaters oder älteren Bruders. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld für beide reicht,

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