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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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meinte Ulrich. «Aber dann denkst du dir, daß ich ja doch ‹nur dein Bruder› bin. Und ein ander Mal schämst du dich gerade nicht, wenn ich dich unter Umständen erwische, die für einen fremden Herrn sehr anziehend wären, aber plötzlich fällt dir doch ein, daß es nichts für meine Augen ist, die ich nun sofort abwenden soll ...»
    «Und warum macht das Spaß?» fragte Agathe.
    «Vielleicht bereitet es Glück, einem andern mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen warum» sagte Ulrich. «Es erinnert an die Liebe des Kindes zu seinen Dingen; ohne die geistige Ohnmacht des Kindes ...»
    «Vielleicht macht es dir nur Spaß,» gab Agathe zur Antwort «Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast?!»
    «Auch» sagte Ulrich und sah ihr zu. «Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen einträchtig-verständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!»
    «Wenn ich dir nun aber sagen wollte, daß Hagauer und ich Pioniere dieses Zeitalters gewesen sind, würdest du es mir wieder verübeln!» entgegnete Agathe mit einem Lächeln, so herb wie guter ungezuckerter Wein. «Ich verüble nichts mehr» sagte Ulrich. Er lächelte. «Ein Krieger aus dem Harnisch geschnallt! Zum erstenmal seit undenklicher Zeit fühlt er die Luft der Natur statt gehämmerten Eisens auf der Haut und sieht seinen Leib so müd und zart werden, daß ihn die Vögel davontragen könnten!» beteuerte er.
    Und so lächelnd, einfach vergessend, damit aufzuhören, betrachtete er seine Schwester, wie sie auf der Kante eines Tisches saß und das in einen schwarzen Seidenstrumpf gekleidete Bein pendeln ließ; sie hatte außer dem Hemd nichts an als ein kurzes Höschen: es waren das aber gleichsam von ihrer Bestimmung losgelöste und bildhaft-einzeln gewordene Eindrücke. «Sie ist mein Freund und stellt mir entzückend eine Frau vor» dachte Ulrich. «Welche realistische Verwicklung, daß sie wirklich eine ist!»
    Und Agathe fragte: «Gibt es wirklich keine Liebe?»
    «Doch!» sagte Ulrich. «Aber sie ist ein Ausnahmefall. Man muß das trennen: Da ist erstens ein körperliches Erlebnis, das zur Klasse der Hautreize gehört; das läßt sich auch ohne moralisches Zubehör, ja ohne Gefühl, als reine Annehmlichkeit wachrufen. Dann sind, zweitens, gewöhnlich Gemütsbewegungen vorhanden, die sich allerdings mit dem körperlichen Erlebnis heftig verbinden, aber doch nur so, daß sie mit geringen Abweichungen bei allen Menschen die gleichen sind; diese Hauptaugenblicke der Liebe möchte ich in ihrer zwangsläufigen Gleichheit immer noch eher zum Körperlich-Mechanischen als zur Seele rechnen. Endlich ist aber da auch das eigentlich seelische Erlebnis des Liebens: bloß hat es mit den beiden anderen Teilen gar nicht notwendig zu tun. Man kann Gott lieben, man kann die Welt lieben; ja vielleicht kann man überhaupt nur Gott oder die Welt lieben. Jedenfalls ist es nicht nötig, daß man einen Menschen liebt. Tut man es aber, reißt das Körperliche die ganze Welt an sich, so daß sie sich gleichsam umstülpt –» Ulrich unterbrach sich.
    Agathe war dunkelrot geworden.
    Wenn Ulrich seine Worte mit der Absicht so geregelt und gesetzt hätte, die mit ihnen unvermeidlich verbundenen Vorstellungen des Liebesvorgangs scheinheilig Agathe zu Ohr zu bringen, er würde seinen Willen verwirklicht haben.
    Er suchte nach einem Streichholz, nur damit die unbeabsichtigt entstandene Beziehung durch irgendeine Störung wieder unterbrochen werde. «Jedenfalls» sagte er «ist Liebe, wenn das Liebe ist, ein Ausnahmefall, und kann nicht das Muster für das alltägliche Geschehen abgeben.»
    Agathe hatte nach den Enden der Tischdecke gegriffen und sie um ihre Beine geschlagen. «Würden fremde Leute, die uns sähen und hörten, nicht von einem widernatürlichen Empfinden reden?» fragte sie

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