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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Säbel, Pistole oder noch neueren Instrumenten in der Faust dargestellt werden müßten, so möchte ihn das empört haben, aber die Waffen des Wissens wollte er dem Glauben nicht vorenthalten sehen. Das war beinahe zur Gänze ein Irrtum, aber nicht er allein beging ihn; und darum war er über Agathe mit Worten hergefallen, die in seinen Veröffentlichungen einen ehrenvollen Platz verdient hätten – und ihn dort wahrscheinlich auch einnahmen –, der sich ihm Anvertrauenden gegenüber aber fehl am Ort gewesen waren. Da er den Sendling ihm feindlicher Weltteile, den ein gütiges oder dämonisches Geschick in seine Hände gegeben, nun bescheiden nachdenklich vor sich sitzen sah, spürte er das selbst und war in Verlegenheit, was er antworten solle. «Ach!» sagte er, möglichst allgemein und wegwerfend, und traf zufällig nicht weit vom Richtigen: «Ich habe den Geist gemeint, der heute herrscht und junge Menschen befürchten läßt, daß sie dumm, ja sogar unwissenschaftlich erscheinen könnten, wenn sie nicht allen modernen Aberglauben mitmachen. Was weiß ich, welche Schlagworte Ihnen im Sinn hegen mögen: Ausleben! Lebensbejahung! Kultur der Persönlichkeit! Freiheit des Denkens oder der Kunst! Jedenfalls alles, nur nicht die Gebote der ewigen und einfachen Moral.»
    Die glückliche Steigerung: «dumm, ja sogar unwissenschaftlich» erfreute ihn durch ihre Feinheit und hatte seinen Kampfgeist wieder aufgerichtet. «Sie werden sich wundern,» fuhr er fort «daß ich im Gespräch mit Ihnen auf Wissenschaft Wert lege, ohne davon unterrichtet zu sein, ob Sie sich viel oder wenig mit ihr befaßt haben –»
    «Gar nicht!» unterbrach ihn Agathe. «Ich bin eine unwissende Frau.» Sie betonte es und schien daran, vielleicht mit einer Art von Schein-Unheiligkeit, Vergnügen zu haben.
    «Aber es ist Ihr Milieu!» berichtigte Lindner mit Nachdruck. «Und ob Freiheit der Sitten oder der Wissenschaft, in beiden drückt sich dasselbe aus: der von der Moral losgelöste Geist!»
    Agathe empfand auch diese Worte wieder als nüchterne Schatten, die gleichwohl von etwas Dunklerem herfielen, das ihnen in der Nähe war. Sie war nicht gesonnen, ihre Enttäuschung zu verbergen, offenbarte sie aber lachend: «Sie haben mir letzthin den Rat gegeben, nicht an mich zu denken, und reden selbst immerzu von mir» gab sie dem Mann vor ihr spöttisch zu bedenken.
    Dieser wiederholte: «Sie haben Angst, sich unzeitgemäß vorzukommen!»
    In Agathes Augen zuckte es ärgerlich. «Ich bin ratlos, so wenig paßt auf mich, was Sie sagen!»
    «Und ich sage Ihnen: ‹Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Knechte der Menschen!›» Die Vortragsweise, die zur ganzen Verkörperung in Widerspruch stand wie eine schwere Blüte zu einem schwachen Stengel, erheiterte Agathe. Sie fragte dringlich und beinahe rauh: «Also, was soll ich tun? Ich erhoffe mir von Ihnen eine bestimmte Antwort.»
    Lindner schluckte und wurde dunkel vor Ernst. «Tun Sie, was Ihre Pflicht ist!»
    «Ich weiß nicht, was meine Pflicht ist!»
    «Dann müßten Sie sich Pflichten suchen!»
    «Ich weiß doch nicht, was Pflichten sind!»
    Lindner lächelte grimmig. «Da haben wir ja gleich die Freiheit der Persönlichkeit!» rief er. «Eitel Spiegelung! Sie sehen es doch an sich: wenn der Mensch frei ist, ist er unglücklich! Wenn der Mensch frei ist, ist er ein Phantom!» fügte er, aus Verlegenheit die Stimme noch etwas mehr hebend, hinzu. Dann senkte er sie aber wieder und schloß mit Überzeugung: «Pflicht ist, was die Menschheit in richtiger Selbsterkenntnis gegen ihre eigene Schwäche aufgerichtet hat. Pflicht ist ein und dieselbe Wahrheit, die alle großen Persönlichkeiten bekannt oder auf die sie ahnungsvoll hingewiesen haben. Pflicht ist das Werk jahrhundertelanger Erfahrung und das Ergebnis des Seherblicks der Begnadeten. Pflicht ist aber auch, was selbst der einfachste Mensch im geheimen Innern genau kennt, wenn er nur aufrichtig lebt!»
    «Das war ein von Kerzen durchzitterter Gesang» stellte Agathe anerkennend fest.
    Unliebsam war, daß Lindner auch fühlte, daß er falsch gesungen habe. Er hätte etwas anderes sagen sollen, getraute sich aber nicht zu erkennen, worin die Abweichung von der echten Stimme seines Herzens bestehe. Er gestattete sich bloß den Gedanken, daß dieses junge Wesen von seinem Mann tief enttäuscht sein müsse, da es so dreist und verbittert gegen sich selbst wüte, und daß es trotz alles Tadels, den es herausfordere, eines stärkeren Mannes würdig

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