Gesammelte Werke
glaubte, ließ er sich davon nicht beirren, sondern wußte, daß die Versuchung zu Hochmut und Eitelkeit für schöne Frauen außerordentlich groß sei. Er konnte überhaupt ein schönes Gesicht selten ohne eine Beimischung von Mitleid betrachten. Damit ausgezeichnete Menschen waren nach seiner Überzeugung fast immer Märtyrer ihrer glänzenden Außenseite, die sie zu Dünkel verführte und seinem schleichenden Gefolge von Herzenskälte und Äußerlichkeit. Immerhin kann es aber auch vorkommen, daß hinter einem schönen Antlitz eine Seele wohnt, und wieviel Unsicherheit hat sich denn nicht oft schon hinter Hochmut, wieviel Verzweiflung unter Leichtsinn verborgen! Oft sind das sogar besonders edle Menschen, denen bloß die Hilfe richtiger und unerschütterlicher Überzeugungen abgeht. Und Lindner wurde nun nach und nach wieder ganz davon überwältigt, daß sich der erfolgreiche Mensch in die Stimmung des vernachlässigten hineinzuversetzen habe; und als er dies tat, wurde er gewahr, daß die Form von Agathes Antlitz und Körper jene liebliche Ruhe besitze, die nur dem Großen und Edlen zu eigen ist, ja das Knie in den Falten der Umhüllung erschien ihm sogar als das einer Niobe. Es setzte ihn in Erstaunen, daß sich ihm gerade dieser Vergleich aufdrängte, der seines Wissens keinesfalls passend sein konnte, aber anscheinend hatte sich darin der Adel seines moralischen Schmerzes selbsttätig mit der verdächtigen Vorstellung vieler Kinder verbunden, denn er fühlte sich nicht minder angezogen als geängstigt. Er bemerkte nun auch den Busen, der in raschen, kleinen Wellen atmete. Es wurde ihm schwül zumute, und wäre ihm nicht abermals seine Weltkenntnis zu Hilfe gekommen, so hätte er sich sogar ratlos gefühlt: sie flüsterte ihm aber im Augenblick der höchsten Verfänglichkeit zu, daß dieser Busen etwas Unausgesprochenes umschließen müsse, und daß dieses Geheimnis nach allem, was er wußte, mit der Scheidung von seinem Kollegen Hagauer zusammenhängen dürfte; und das rettete ihn aus beschämender Torheit, indem es ihm augenblicklich die Möglichkeit bot, sich die Enthüllung dieses Geheimnisses an Stelle der des Busens zu wünschen. Er tat es aus ganzer Kraft, und die Verbindung von Sünde mit der ritterlichen Tötung des Sündendrachens schwebte ihm dabei in glühenden Farben vor, ähnlich wie sie auf der Glasmalerei in seinem Arbeitszimmer leuchteten.
Agathe unterbrach dieses Nachsinnen mit einer Frage, die sie in gemäßigtem, ja verhaltenen Ton an ihn richtete, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. «Sie haben behauptet, daß ich unter Einflüsterungen, unter einem fremden Zwang handle: was haben Sie damit gemeint?»
Lindner hob verblüfft den Blick, der auf ihrem Herzen geruht hatte, zu ihren Augen. Was ihm noch nie widerfahren war, er wußte nicht mehr, was er zuletzt gesagt hatte. Er hatte in dieser jungen Frau ein Opfer des freien Geistes gesehen, der die Zeit verwirrt, und hatte es über seiner Siegesfreude vergessen.
Agathe wiederholte ihre Frage mit einer kleinen Veränderung: «Ich habe Ihnen anvertraut, daß ich mich von Professor Hagauer scheiden lassen will, und Sie haben mir erwidert, daß ich unter Einflüsterungen handle. Es könnte mir nützen, zu erfahren, was Sie darunter verstehen. Ich wiederhole Ihnen, daß keiner der landläufigen Gründe ganz zutrifft; nicht einmal die Abneigung ist nach den Maßen der Welt unüberwindlich gewesen. Ich bin bloß überzeugt worden, daß sie nicht überwunden werden darf, sondern unermeßlich vergrößert werden soll!»
«Von wem?»
«Das ist eben die Frage, die Sie mir lösen helfen sollen.» Sie sah ihn wieder mit einem sanften Lächeln an, das sozusagen abscheulich tief ausgeschnitten war und den inneren Busen entblößte, als läge nur noch ein schwarzes Spitzentuch darüber. Unwillkürlich schützte Lindner davor das Auge mit einer Bewegung der Hand, die seine Brille zu richten vorgab. Die Wahrheit war, daß Mut in seinem Weltbild als auch in den Gefühlen, die er Agathe entgegenbrachte, dieselbe ängstliche Rolle spielte. Er gehörte zu denen, die erkannt haben, daß es den Sieg der Demut erleichtert, wenn sie den Hochmut zuvor mit der Faust niederstreckt, und seine gelehrte Natur hieß ihn keinen Hochmut so bitterlich fürchten wie den der freien Wissenschaft, die dem Glauben vorwirft, daß er unwissenschaftlich sei. Hätte man ihm gesagt, daß die Heiligen mit ihren leer und bittend erhobenen Händen veraltet seien und gegenwärtig mit
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