Gesammelte Werke
mir einiges zu erklären» begann sie. «Ich bin jetzt da. Ich weiß noch gut, was Sie gegen meine Scheidung gesagt haben. Vielleicht habe ich es seither sogar besser verstanden!» Sie saßen an einem großen, runden Tisch, und die ganze Länge seines Durchmessers trennte sie. Agathe fühlte sich, im Verhältnis zu den letzten Augenblicken ihres Alleinseins, gleich im ersten Augenblick dieses Beisammenseins tief gesunken, dann aber auf festem Boden; sie legte dort das Wort Scheidung wie einen Köder aus, obwohl ihre Neugierde, Lindners Meinung zu erfahren, auch aufrichtig war.
Und dieser antwortete wirklich fast in demselben Augenblick: «Ich weiß recht wohl, warum Sie diese Erklärung von mir verlangen. Man wird Ihnen zeitlebens eingeflüstert haben, daß der Glaube an Übermenschliches und der Gehorsam gegen Gebote, die in diesem ihren Ursprung haben, dem Mittelalter angehöre! Sie haben erfahren, solche Märchen seien durch die Wissenschaft abgetan worden! Sind Sie aber dessen gewiß, daß es wirklich so ist?!»
Agathe bemerkte zu ihrer Überraschung, daß sich ungefähr bei jedem dritten Wort seine Lippen unter dem schütteren Bart wie zwei Angreifer aufrichteten. Sie gab keine Antwort.
«Haben Sie darüber nachgedacht?» fuhr Lindner streng fort. «Kennen Sie die wahre Unzahl von Fragen, die damit zusammenhängen? Ich sehe: Sie kennen sie nicht! Aber Sie haben eine großartige Handbewegung, mit der Sie das abtun, und wissen wahrscheinlich nicht einmal, daß Sie bloß unter dem Einfluß fremden Zwanges handeln!»
Er hatte sich in die Gefahr gestürzt. Es blieb ungewiß, an welche Einflüsterer er dabei dachte. Er fühlte sich fortgerissen. Seine Rede war ein langer Tunnel, den er durch einen Berg gebohrt hatte, um jenseits über eine Vorstellung: «Lügen freigeistiger Männer» herzufallen, die dort in prahlerischem Licht prangte. Er meinte weder Ulrich noch Hagauer, aber er meinte beide, er meinte alle. «Und wenn Sie auch nachgedacht hätten» – er rief es mit kühn ansteigender Stimme aus «und von diesen Irrlehren überzeugt wären: daß der Körper nichts als ein System toter Korpuskeln sei, die Seele ein Drüsenspiel, die Gesellschaft ein Lumpenbündel mechanisch-wirtschaftlicher Gesetze; und sogar, wenn das richtig wäre, wovon es weit entfernt ist – so würde ich doch solchem Denken das Wissen von der Wahrheit des Lebens absprechen! Denn was sich Wissenschaft nennt, hat nicht die geringste Zuständigkeit, mit ihrem äußerlichen Verfahren das zu erklären, was als innere, geistige Gewißheit im Menschen lebt. Die Lebenswahrheit ist ein anfangloses Wissen, und die Tatsachen des wahren Lebens werden nicht durch Beweis vermittelt: wer lebt und leidet, hat sie in sich selbst als die geheimnisvolle Macht höherer Ansprüche und als die lebendige Deutung seiner selbst!»
Lindner war aufgestanden. Seine Augen blitzten wie zwei Kanzelredner auf der von seinen langen Beinen gebildeten Höhe. Er sah mit Machtgefühlen auf Agathe hinab. «Warum spricht er gleich so viel?» dachte sie. «Und was hat er gegen Ulrich? Er kennt ihn kaum und spricht doch offenkundig gegen ihn!?»Da gab ihr die weibliche Übung im Erregen von Gefühlen, schneller, als es Nachdenken vermocht hätte, die Gewißheit ein, daß Lindner nur deshalb so spräche, weil er in einer lächerlichen Weise eifersüchtig sei. Sie sah mit einem bezaubernden Lächeln zu ihm auf. Er stand groß, schwank und bewaffnet vor ihr und kam ihr wie eine kampflustige Riesenheuschrecke aus vergangenen Erdzeitaltern vor. «Du lieber Himmel,» dachte sie «jetzt werde ich wieder etwas sagen, das ihn ärgert, und er wird wieder hinter mir drein laufen: Wo bin ich?! Welches Spiel treibe ich?!» Es verwirrte sie, daß sie von Lindner zum Lachen gereizt wurde und doch einzelne seiner Worte nicht ohneweiters los wurde, wie «anfangloses Wissen» oder «lebendige Deutung»: so fremde Worte in der Gegenwart, aber ihr heimlich vertraut, als hätte sie selbst sie immer gebraucht, ohne daß sie sich erinnern konnte, diese Ausdrücke früher auch nur gehört zu haben. Sie dachte: «Es ist schauerlich, aber einzelne seiner Worte hat er mir schon wie Kinder ins Herz gesenkt!»
Lindner bemerkte, daß er auf sie Eindruck gemacht habe, und diese Genugtuung versöhnte ihn ein wenig. Er sah eine junge Frau vor sich, an der Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja selbst Keckheit verdächtig zu wechseln schienen: und da er ein genauer Kenner der Frauenseele zu sein
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