Gesammelte Werke
gleich mit den Worten ‹Sie, verbrecherisches und gemeines Subjekt!› anschrien?» schlug Agathe versuchsweise vor.
«So könnte es sein, daß er uns weder für Irre noch für witzig hielte, sondern bloß für das, was man Andersdenkende nennt; Parteigänger, die sich in ihm geirrt haben. Denn offenbar haben die Blindenverbände des Nächstenhasses zusammen nicht viel weniger Mitglieder als der der Nächstenliebe!»
Agathe nickte einverständlich; dann schüttelte sie den Kopf und blickte in die Luft. Die Luft war noch genau so wie vorher. Sie blickte zu Boden, und irgendeine demütige Einzelheit, ein Kellerfenster, ein verlorengegangenes Blatt Gemüse, schien vom Licht des Himmels sanft zu flammen. Schließlich sah sie sich nach etwas um, das ihr einfach von selbst gefiele, ein Gesicht oder ein Schaustück in einer Auslage, und fand es. Solches wirkliches Gefallen war aber doch ein blinder Fleck in dem Glanz des Tages; was Ulrich schon ähnlich ausgesprochen hatte, nur fiel ihr jetzt der Widerspruch noch stärker auf. Es störte die allgemeine Welt- und Menschenliebe, statt sie durch seinen kleinen Beitrag zu vermehren. So antwortete Agathe: «Es ist alles sehr unwirklich! Auch ich weiß heute nicht, ob ich die wirklichen Menschen und Dinge, noch ob ich wirklich etwas liebe!»
«Soll das die Antwort auf meine Frage sein,» verlangte Ulrich, diese Frage etwas verändernd, zu wissen «ob irgendeine Liebe, mag sie auch groß sein, ohne sinnliche Erfüllung mehr als der Schatten einer Liebe sein kann? Schon in jedem Begehren, das nicht auch den Sinnen etwas zu tun gibt, ist eine schweigende Trauer!»
«Ich bin liebevoll und liebeleer, und beides zugleich» klagte Agathe lächelnd, mit einer kleinen verzagten Gebärde auf alle Welt weisend. – Es war die Klage des Herzens, worin Gott so tief eingedrungen ist wie ein Dorn, den keine Fingerspitzen fassen können. In den Bekenntnissen der Mystiker, die mit ihrer ganzen menschlichen Seele und Körperlichkeit nach ihm verlangen, unterbricht diese eigenartige Verzweiflung immer wieder die Augenblicke der aufs nächste herangekommenen Verklärung; und die Geschwister erinnerten sich nun beide der Stunde im Garten, da Agathe aus einem Buch solche Beispiele ihrem Bruder vorgelesen hatte. Nachdem sie sich darüber verständigt hatten, sagte Ulrich: «Etwas von dieser Mystik ist auch in der Nächstenliebe; alle fühlen es und gehorchen ihr, ohne sie zu verstehen. Und vielleicht enthält jede große Liebe etwas Mystisches, vielleicht sogar schon jede große Leidenschaft. Vielleicht ist sogar im gemäßigten Leben in allen uns tief öffnenden Augenblicken die Anteilnahme an Menschen und Dingen eine mystische und etwas anderes als eine wirkliche!»
«Und was ist eine ‹mystische Anteilnahme›, wenn nicht bloß keine wirkliche?» fragte Agathe.
Ulrich überlegte eigentlich nicht, wohl zögerte er aber. Schließlich sagte er mit viel Bestimmtheit: «Sieh doch, man ist zugleich liebevoll und liebeleer. Man liebt alles und nichts Einzelnes. Man kann sich von der geringfügigsten Kleinigkeit nicht loslösen, und zugleich fühlt man, daß alles zusammen nicht von Wichtigkeit ist: Das sind Widersprüche; beides zugleich kann scheinbar nicht wirklich sein. Und doch ist es wirklich; es hätte ja gar keinen Sinn, das zu leugnen! Wenn ich dich also nicht bitten kann, unter mystischer Anteilnahme eine religiöse Zauberei zu verstehen, so bleibt nur die Annahme übrig, daß es zwei Arten, die Wirklichkeit zu erleben, gibt, die sich uns mehr oder weniger aufnötigen!»
Manchmal entstehen in einer begünstigten Minute, und eng vereinigt, die Antworten auf viele Fragen, die, vereinzelt und stockend, wechselnde Unruhe bereitet haben. Manchmal täuscht diese Verkürzung auch; doch bleibt sie immer ein Vorblick. Eine solche Minute war die des Einfalls, daß es in der Welt zwei Arten von Wirklichkeit, besser gesagt, daß es zwei Arten der weltlichen Wirklichkeit gebe. Als das ausgesprochen war, und schon ehe sich die Geschwister von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt hatten, gab es keine Frage aus ihrem Leben, die nicht von dieser Antwort berührt worden wäre. Die vielen ungewöhnlichen und grenzenlos untereinander verknüpften Erlebnisse und Mutmaßungen der letzten Zeit, und ihre Vorandeutungen in früherer, fanden wohl keine Erklärung, aber durch alle ging eine erfrischte Zuversicht hindurch. So zieht sich eine Flamme dunkel zusammen und hält den Atem an, ehe sie höher
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