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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Alltäglichkeit entspricht. Auf diese Weise geschah es, daß die Unterhaltung eines Tages eine Richtung einschlug, die bezeichnend für ihr Verhalten zueinander und zu ihrer Umwelt war, wenngleich sie noch keineswegs über das ihnen Bekannte hinausführen mochte.
    Ulrich fragte: «Was bedeutet eigentlich der Auftrag: ‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!›?»
    Agathe sah ihn von der Seite an.
    «Offenbar: Liebe auch den Fernsten und Allerunnächsten!» fuhr Ulrich fort. «Aber was will es heißen: wie sich selbst? Wie liebt man sich denn selbst? In meinem Fall wäre die Antwort: Gar nicht! in den meisten anderen: Mehr als alles! Blind! Ohne zu fragen und zuchtlos!»
    «Du bist zu kriegerisch; wer es gegen sich selbst ist, ist es auch gegen andere!» antwortete Agathe kopfschüttelnd. «Und wenn du dir selbst nicht genug bist, wie sollte gar ich es dir sein?» Sie sagte das in einem Ton, der zwischen dem heiter ertragenen Schmerzes und höflichen gewendeten Gespräches lag. Aber Ulrich überhörte es, verblieb beim Allgemeinen und sah steif ins Weite. Er fuhr fort: «Vielleicht sagte ich besser: Gewöhnlich liebt sich jeder am meisten und kennt sich am wenigsten! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hätte dann den Inhalt: Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen. Und seltsam genug, wenn der Scherz erlaubt ist, fände sich auch in der Nächstenliebe wie in jeder anderen das Erbübel, vom Baume der Erkenntnis zu essen!»
    Agathe blickte langsam auf. «Es hat mir gefallen, daß du einmal von mir gesagt hast, ich sei deine Liebe zu dir selbst, die du verloren und wiedergefunden hast. Aber nun sagst du, daß du dich nicht liebst, und mich, nach strenger Logik und Beispiel, nur deshalb, weil du mich nicht kennst! Beleidigt es mich nicht gar, daß ich deine Selbstliebe bin?» Der Schmerz der Stimme hatte nun vollends der Heiterkeit Platz gemacht.
    Auch Ulrich scherzte. Er hatte gut fragen, ob es denn besser wäre, daß er sie liebe, obwohl er sie kenne. Denn auch das gehört zur Bestimmung der Nächstenliebe. Es beschreibt die Verlegenheit, in die sie die meisten Menschen versetzt. Sie lieben einander, mögen sich aber nicht. «Sie mißfallen sich gegenseitig oder wissen, daß sie es nach längerer Bekanntschaft tun werden; und geben sich einen viel zu großen Gegenschwung!» behauptete er.
    Die Munterkeit dieses Wortwechsels war erkünstelt. Trotzdem diente auch er der Aufgabe, die Grenzen eines Gedankens, und eines Gefühls, auszukundschaften, dessen Verkündigung – mochte seither auch was immer geschehen oder unterblieben sein – schon damals begonnen hatte, als Ulrich am Bett seiner von Reise und Ankunft ermüdeten Schwester zum erstenmal das Wort «Du bist meine verlorene Selbstliebe» gebrauchte; in einem Gespräch, worin er bekannte, die Liebe zum Ichsein wie auch zur Welt verloren zu haben, und das damit endete, daß sie sich als «Siamesische Zwillinge» erklärten. Dieser Auskundschaftung diente seither auch alles, was Betrachtung der gewöhnlichen und durchschnittlichen Lebensgestaltung war, wenngleich sie sich soeben an der dabei angebrachten oberflächlichen Heiterkeit selbst verletzt hatten.
    Unvermittelt in einen mürrischeren Ton verfallend, gab Ulrich zu verstehen: «Wir hätten einfach sagen sollen, daß Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, nichts anderes ist wie die nützliche Ermahnung: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu!»
    Agathe schüttelte, wie zuvor, den Kopf, aber ihr Blick wurde warm. «Es ist ein hochherzig leidenschaftlicher und heiter freigebiger Auftrag!» rief sie vorwurfsvoll aus. «Seine Beispiele sind: Liebe deine Feinde! Vergelte ihre Übeltaten mit Wohltaten! Liebe, ohne auch nur zu fragen!» Plötzlich hielt sie inne und sah ihren Bruder verdutzt an. «Aber was liebt man eigentlich an einem Menschen, wenn man ihn gar nicht kennt?» fragte sie unschuldig. Ulrich ließ sich Zeit. «Fällt dir nicht auf, daß es eigentlich stört, wenn uns ein Mensch heute begegnet, der uns persönlich gefällt und so schön ist, daß man über ihn etwas Passendes sagen möchte?» Agathe nickte. «Also richtet sich unser Gefühl» gab sie zu «nicht nach der wirklichen Welt und den wirklichen Menschen?» «Also hätten wir die Frage zu beantworten, welchem Teil davon es gilt oder welcher Umgestaltung und Verklärung des wirklichen Menschen und der wirklichen Welt?» ergänzte Ulrich leise.
    Nun war es Agathe, die zuerst keine Antwort gab;

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