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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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augenfälligere Wandlung in Berenices physischem Zustand – diese sonderbare und grauenhafte Vernichtung ihrer wirklichen, sichtbarlichen Persönlichkeit – weit mehr fesselte.
    Sicherlich habe ich sie in den strahlenden Tagen ihrer unvergleichlichen Schönheit nie geliebt. Infolge meiner seltsamen Anomalie waren meine Gefühle nie vom Herzen – waren meine Neigungen stets vom Verstand ausgegangen. Im frühen Morgengrau – im schattigen Gitterwerk des mittäglichen Waldes – nächtens in der Stille meines Studierzimmers – wann und wo sie mir je vor Augen trat, immer war es mir, als sei sie nicht die lebende, atmende Berenice, sondern eine Traumgestalt; sie erschien mir nicht als ein irdisches Geschöpf, sondern als die Abstraktion eines solchen – nicht als etwas, das man bewundern, sondern als etwas, dem man nachsinnen müsse – nicht als ein Wesen zum Lieben, sondern als ein Thema zu tiefgründigem Erforschen. Und jetzt – jetzt schauderte ich bei ihrem Nahen und erbleichte bei ihrem Anblick. Aber ich beklagte ihren Verfall bitter, und ich erinnerte mich, dass sie mich seit langem liebte, und so kam es, dass ich ihr in einer schlimmen Stunde von Heirat sprach.
    Und als die Zeit nahte, da wir Hochzeit halten wollten, saß ich an einem Winternachmittag eines jener wunderbar warmen, stillen und umschleierten Tage, die man die Amme des schönen Eisvogels nennt * , wie ich vermeinte ganz allein im inneren Gemach der Bibliothek; aber als ich aufblickte, sah ich Berenice vor mir stehen.
    War es meine eigene fiebernde Einbildungskraft oder eine Wirkung der dunstigen Atmosphäre oder das trübe Dämmerlicht im Zimmer oder der Faltenfluss ihres grauen Gewandes, was ihr so verschwommene Konturen gab? Ich konnte es nicht sagen. Sie sprach kein Wort; und ich – nicht um alles in der Welt hatte ich ein Wort hervorbringen können. Ein eisiger Frost durchrieselte mich; eine unerträgliche Angst befiel mich; eine verzehrende Neugier durchdrang meine Seele, ich sank in meinen Sitz zurück und verharrte regungslos und hielt den Atem an und heftete meine Augen durchdringend auf ihre Gestalt. Ach, sie war entsetzlich abgemagert! Nicht eine einzige Linie, nicht eine einzige Kontur verriet noch eine Spur ihrer früheren Persönlichkeit. Meine brennenden Blicke fielen schließlich auf ihr Antlitz.
    Die Stirn war hoch und sehr bleich und sonderbar starr und war über den hohlen Schläfen von zahllosen Löckchen des einst pechschwarzen Haares beschattet, das jetzt von lebhaftem Gelb war und dessen phantastische Ringel mit der souveränen Melancholie des Antlitzes seltsam kontrastierten. Die Augen waren ohne Leben und ohne Glanz und anscheinend ohne Pupillen; und ich schauderte unwillkürlich vor ihrem glasigen, starren Ausdruck zurück und wandte mich der Betrachtung der dünnen und eingesunkenen Lippen zu. Sie teilten sich zu einem sonderbar bedeutungsvollen Lächeln und enthüllten meinem Blick langsam der veränderten Berenice Zähne. Wollte Gott, dass ich sie nie gesehen hätte oder dass ich, nachdem ich sie sah, gestorben wäre!
    Das Schließen einer Tür schreckte mich auf, und aufblickend bemerkte ich, dass meine Kusine das Gemach verlassen hatte. Aber in der wüsten Kammer meines Gehirns war etwas zurückgeblieben: das weiße Gespenstbild ihrer Zähne – und das ließ sich nicht mehr vertreiben. Das flüchtige Lächeln von Berenices Lippen hatte genügt, jedes Schattenfleckchen auf dem schimmernden Email, jede Einkerbung der Schneiden – kurz jedes kleinste Merkmal ihrer Zähne tief in mein Gedächtnis einzubrennen. Ich sah sie jetzt sogar deutlicher als vorhin, da ich sie wirklich vor Augen hatte. Die Zähne! – Die Zähne! – Sie waren hier, waren dort, sie waren überall – sichtbar, greifbar vor mir; lang, schmal und übermäßig weiß, umwunden von den bleichen Lippen – ganz so wie in jenem Augenblick, da jenes verhängnisvolle Lächeln sie zuerst enthüllte.
    Dann kam meine Monomanie mit voller Wut über mich, und ich wehrte mich vergeblich gegen ihre unerklärliche, bezwingende Gewalt. Alle Gegenstände und Ereignisse um mich her schienen zu versinken – ich hatte nur noch Gedanken für diese Zähne. Nach ihnen trug ich ein wahnsinniges Verlangen. Die Welt und alles, was mich mit ihr verband, schwand hin vor diesem einen, einzigen Bild. Sie, die Zähne, sie allein waren meinem geistigen Auge gegenwärtig – und sie, in ihrer ausgesprochenen Individualität, wurden zum einzigen Gedanken meines Geistes. Ich

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