Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
als sie vertragen konnte - ihre Wangen wurden rosig und glänzend, ihre Augen hart - nach Hause gebracht, eh er mit O zu Sir Stephen gefahren war. Jacqueline wohnte in einer dieser düsteren Familienpensionen in Passy, wo die Weißrussen sich in den ersten Tagen der Einwanderung zusammengedrängt hatten, um sich nie wieder wegzurühren. Die Diele hatte einen Anstrich, der wie Eichentäfelung aussehen sollte, zwischen den Stäben des Treppengeländers lag dicker Staub und der grüne Läufer wies große abgetretene Flecken auf. René - der niemals die Schwelle überschritten hatte - wollte jedesmal mit hineingehen, jedesmal rief Jacqueline nein, rief danke schön, sprang aus dem Wagen und warf die Tür hinter sich zu, als hätte eine Flammenzunge sie plötzlich erfassen und verbrennen können. Und es stimmte, dachte O, daß das Feuer hinter ihr her war. Es war bewundernswert, daß sie es ahnte, eh noch irgend etwas sie gewarnt hatte. Zumindest wußte sie, daß sie sich vor René hüten mußte, so ungerührt sie auch sein Desinteresse zu lassen schien (aber tat es das wirklich? denn was das Ungerührtscheinen anlangte, so schauspielerte er genauso gut wie sie). Als Jacqueline sie ein einziges Mal hatte ins Haus und in ihr Zimmer kommen lassen, verstand O, warum sie René so ungestüm den Eintritt verwehrte. Was wäre aus ihrem Prestige geworden, aus ihrer schwarzweiß Legende auf den Glanzpapierseiten der teueren Modehefte, wenn jemand anderer als eine Frau wie sie, O, gesehen hätte, aus welcher schmutzigen Höhle das seidigglänzende Raubtier hervorkam? Das Bett wurde nie gemacht, nur eine Decke darübergeworfen unter der ein graues, fettiges Laken hervorschaute, denn Jacqueline legte sich niemals schlafen, ohne ihr Gesicht mit Nährcreme zu massieren und sie schlief immer ein, eh sie es wieder abwischen konnte. Früher einmal mußte ein Vorhang die Waschecke verborgen haben, nun baumelten noch zwei Ringe an der Stange, von denen ein paar Stoffetzen hingen. Nichts hatte mehr Farbe, weder der Teppich noch die Tapete, an der die graurosa Blumen sich hochrankten wie wilde und versteinerte Gewächse an einem aufgemalten weißen Spalier. Man hätte alles abreißen müssen, die Wände freilegen, die Teppiche hinauswerfen, den Fußboden abhobeln. Auf jeden Fall sofort die Schmutzbahnen wegscheuern, die wie eine Marmorierung das Emaille des Waschbeckens streiften, sofort die Flaschen mit Reinigungsmilch und die Cremetöpfe säubern und ordnen, die Puderdose abwischen, den Frisiertisch abwischen, die gebrauchten Wattebäusche wegwerfen, die Fenster öffnen. Doch Jacqueline kerzengerade, sauber und nach Zitronelle und wilden Blumen riechend, untadelig und unberührbar, bedrückte diese Höhle überhaupt nicht. Was sie dagegen bedrückte, was ihr auf die Nerven ging, war ihre Familie. Die Höhle, über die O zu René offen sprach, gab den Anstoß, daß René über O den Vorschlag machte, der ihrer aller Leben ändern sollte, aber die Familie bewirkte, daß Jacqueline diesen Vorschlag annahm. Nämlich daß Jacqueline zu O ziehen solle. Eine Familie war gelinde ausgedrückt, es war eine Sippe oder vielmehr eine Horde. Großmutter, Tante, Mutter und sogar eine Dienerin, vier Frauen zwischen fünfzig und siebzig Jahren, geschminkt, laut, erstickend unter schwarzen Seiden und Jettschmuck, schluchzend um vier Uhr morgens im Zigarettenqualm vor dem roten Lämpchen der Ikonen, vier Frauen im Klirren der Teegläser und im rauhen Gezisch einer Sprache, die Jacqueline um den Preis ihres halben Lebens hätte vergessen mögen. Es machte Jacqueline verrückt, daß sie ihnen gehorchen mußte, sie anhören, allein schon, daß sie sie überhaupt sehen mußte. Wenn sie sah, wie ihre Mutter beim Teetrinken ein Zuckerstück zum Mund führte, dann stellte sie ihr eigenes Glas wieder ab, floh in ihren staubigen und kargen Stall und ließ die drei, die Großmutter, die Mutter, die Schwester ihrer Mutter - alle drei mit schwarzgefärbten Haaren und zusammengewachsenen Brauen, großen, vorwurfsvollen Rehaugen - im Zimmer ihrer Mutter zurück, das auch als Salon diente. Jacqueline floh, schlug die Türen hinter sich zu und man rief ihr nach "Choura, Choura, mein Täubchen", wie in den Romanen von Tolstoi, denn sie hieß nicht Jacqueline. Den Namen Jacqueline hatte sie sich für ihren Beruf zugelegt, hatte ihn sich zugelegt, um ihren wirklichen Namen zu vergessen und mit diesem wirklichen Namen die zärtliche Nestwärme des schmierigen Frauengemachs, um
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