Geschichte des Westens
Moskau, eine ebenso heroisch-monumentale wie kitschig-ornamentale Architektur, das 1935 ergangene Publikationsverbot für den Dichter Boris Pasternak und die Uraufführung der Fünften Symphonie von Dimitri Schostakowitsch am 21. November 1937 in der Leningrader Philharmonie.
Manches an der Sowjetunion der mittleren und späten dreißiger Jahre wirkte demgegenüber wie eine teilweise Restauration: Historienfilme wie «Peter der Erste» von Wladimir Petrow und Eisensteins «Alexander Newski», ein Ausdruck des neuen, den «proletarischen Internationalismus» ergänzenden und relativierenden «Sowjetpatriotismus», die Popularisierung von Klassikern der russischen Literatur, obenan Puschkin, die Wiedereinführung der in der Revolutionszeit abgeschafften Offiziersränge und die erneute Wertschätzung der Familie.Noch immer gab es, ausweislich der Volkszählung von 1937, in der Sowjetunion mehr Gläubige als Nichtgläubige (56,7 gegenüber 43,3 Prozent der über 16 Jahre alten Bevölkerung). Der Atheismus trat zwar weniger militant in Erscheinung als in den zwanziger Jahren, die Kirchenverfolgung aber hörte nicht auf. Nach älteren Schätzungen von Dissidenten wurden zwischen 1936 und 1938 800.000 Geistliche verhaftet und 670 Bischöfe ermordet. Nach neueren Angaben sollen allein 1937 150.000 Gläubige verhaftet und 80.000 ermordet worden sein. Von ehedem 80.000 orthodoxen Kirchen dienten nur noch 20.000 ihrem ursprünglichen Zweck; viele waren, wie Ende 1931 die Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale, weggesprengt oder auf andere Weise zerstört worden.
Über die tatsächliche Verbreitung der Religiosität im eigenen Land erfuhr die sowjetische Öffentlichkeit nichts. Die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden nicht bekanntgegeben – vor allem deshalb nicht, weil sie Rückschlüsse auf die Verluste durch Kollektivierung, Hungersnöte, Exekutionen und Deportationen erlaubt hätten: 1934 war die Bevölkerungszahl der Sowjetunion offiziell mit 168 Millionen angegeben worden, 1937 belief sie sich nur noch auf 162 Millionen. Bei der Geheimhaltung und teilweisen Vernichtung der statistischen Daten aber blieb es nicht. Die verantwortlichen Statistiker des Zentralarchivs der Volkswirtschaft und die an der Volkszählung beteiligten Funktionäre bis hinunter zur Ortsebene wurden in großer Zahl als «trotzkistisch-bucharinistische Spione» und «Volksfeinde» vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen.
Das Echo, das der stalinistische Terror in den westlichen Demokratien fand, war uneinheitlich. Die Schauprozesse wurden von konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Zeitungen kritisch kommentiert; Berichte über Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern führten in den USA zu Aufrufen, Waren aus der Sowjetunion zu boykottieren. Linke Intellektuelle zogen es aber auch Mitte der dreißiger Jahre zumeist vor, in der Sowjetunion ein Bollwerk des Fortschritts und des Antifaschismus zu sehen. Der französische Schriftsteller Romain Rolland erteilte mit seiner Moskaureise im Jahre 1935 nach dem Urteil François Furets «der Sowjetunion gewissermaßen den Segen des demokratischen Universalismus». Der Nobelpreisträger für Literatur und überzeugte Pazifist, dem Stalin die Ehre einer zweistündigen Unterredung gewährte,kehrte mit dem Eindruck nach Frankreich zurück, daß die Sowjetunion unter der Führung eines Aufklärers das Fanal der Französischen Revolution, die Erneuerung des Menschen, aufgegriffen habe. Ein anderer Sympathisant der Oktoberrevolution, Rollands Dichterkollege André Gide, der im Juni 1936 in Moskau eintraf, verließ hingegen das Reich Stalins einige Wochen später am 23. August, dem Tag der Urteilsverkündung im Prozeß gegen Sinowjew, Kamenew und andere angebliche Parteifeinde, zutiefst ernüchtert. In seinem Buch «Retour de l’U. R. S. S.», das im Oktober 1936 erschien, bezweifelte er, ob «in irgendeinem Land der Gegenwart, und wäre es Hitlers Deutschland, der Geist weniger frei, mehr gebeugt sei, mehr terrorisiert, in tiefere Abhängigkeit geraten».
Gides Buch löste bei den französischen Kommunisten einen Aufschrei der Empörung aus. Die intellektuellen Wortführer der Partei warfen dem berühmten Autor Leichtfertigkeit und Beeinflussung durch den Trotzkismus vor. Mit solchen Vorhaltungen mußte der Berichterstatter und Rechtsexperte der Ligue pour les droits de l’homme, Raymond Rosenmark, nicht rechnen. In einer Beurteilung des ersten der Moskauer Schauprozesse
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