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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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liquidieren galt. Phasen der Milderung und der Mäßigung waren darum nicht auf Dauer angelegt. Eine Sowjetunion ohne äußere und innere Feinde war für den Stalinismus die gefährlichste aller Bedrohungen: Ein solcher Zustand hätte das Regime um seinen Sinn gebracht.
    Spätere Apologeten haben dem Stalinismus immer wieder zugute gehalten, daß er, im Gegensatz zum italienischen Faschismus und erst recht zum deutschen Nationalsozialismus, eine Modernisierungsdiktatur gewesen sei. Tatsächlich war es eine enorme Leistung, daß die Sowjetunion sich unter Stalin in wenig mehr als einem Jahrzehnt von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft verwandelte. Was das Volumen der industriellen Produktion betraf, lag die Sowjetunion am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nur noch hinter den USA, also vor Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Ohne massiven Zwang wäre ein derart rasantes Mengenwachstum nicht vorstellbar gewesen.
    Die institutionelle Verkörperung dieses Zwangs war der von Alexander Solschenizyn so genannte «Archipel GULag», in dem 1938 821.000 und zwei Jahre später 1,5 Millionen Häftlinge arbeiteten. Ohne ihre Sklavenarbeit hätten solche gigantischen Bauprojekte wie der Weißmeer-Ostsee-Kanal und der Moskwa-Wolga-Kanal nicht binnen weniger Jahre gebaut werden können. Kurz nach der Eröffnung des ersten, nach Stalin benannten Kanals im August 1933 unternahmen 120 sowjetische Schriftsteller unter Führung von Maxim Gorki eine Spazierfahrt auf der neuen künstlichen Wasserstraße. In einem Band unter dem Titel «Der Weißmeer-Ostsee-Kanal namens Stalin» rühmten die Autoren die Organisation von «menschlichem Rohstoff» in Form von Zwangsarbeit und bezeichneten das System der Konzentrationslager, aus denen die Arbeitskräfte stammten, als «Leuchte des Fortschritts». Als der Moskwa-Wolga-Kanal, eines der größten Vorhaben des zweiten Fünfjahresplans, im Juli 1937 dem allgemeinen Fracht- und Personenverkehr übergeben wurde, überschlug sich die staatliche Propaganda abermals. Die Tausende von Menschen, die beim Bau ums Leben gekommen waren, blieben unerwähnt. Nach der Fertigstellung des Kanals wurden 55.000 Häftlinge als Stoßarbeiter aus dem Lager entlassen, andere mit Orden ausgezeichnet. Vielen der Techniker und Ingenieure, die das Projekt geleitet hatten, war ein anderes Schicksal beschieden: Sie wurden unter verschiedenartigen Anschuldigungen, darunter Sabotage und Agitation, verhaftet und erschossen.
    Daß Produktionssteigerung nicht Produktivitätszuwachs bedeutete, war den meisten Betriebsleitern bewußt. Die «Stachanow-Bewegung» bedeutete nicht nur eine exzessive Selbstausbeutung der Stoßarbeiter, sie führte auch zur Störung von Produktionsabläufen, zur Überlastung von Maschinen und zu zahllosen Unfällen. Alles sprichtdafür, daß sich mit weniger brutalen Methoden ein höheres Maß an nachhaltigem Wachstum hätte erreichen lassen. Mit rationalen Kriterien noch weniger faßbar war die Vernichtung eines Großteils des Offizierskorps der Roten Armee. Wäre es Stalin wirklich, wie manche seiner nachträglichen Verteidiger meinen, vor allem darum gegangen, die Sowjetunion gegen den drohenden Angriff des nationalsozialistischen Deutschland zu wappnen, hätte sich eine derartige Schwächung seiner bewaffneten Macht von selbst verboten. Doch das Bedürfnis, überall Feinde auszumachen, wo Mißstände eine Jagd auf Sündenböcke nahelegten, war stärker als jedes nüchterne Kalkül.
    1936 gab eine Mißernte Anlaß, Saboteuren die Schuld an der anschließenden Versorgungskrise in die Schuhe zu schieben. Schwarzhandel und Menschenschlangen vor den Geschäften gehörten auch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zum sowjetischen Alltag; die Wohnungsnot war weiterhin drückend. Ansonsten mochte, wer vom Terror verschont blieb, das Leben als relativ «normal» empfinden. Das Rationierungs- und Kartensystem war seit 1935 abgeschafft; die bäuerlichen Massenerhebungen gehörten der Vergangenheit an; an Arbeit herrschte kein Mangel. Zur «Normalität» gehörten der allgegenwärtige Kult um den großen Führer (woschd) Stalin, die pathetische Verherrlichung von Arbeitern und Bauern durch die Maler, Bildhauer und Schriftsteller des «sozialistischen Realismus», eine staatlich gelenkte Körperkulturbewegung, scheinbar unpolitische Unterhaltungsfilme wie «Fröhliche Jungs», «Wolga, Wolga» oder «Zirkus», Musik, Tanz und Sport im 1937 eröffneten Gorki-Kultur- und Erholungspark in

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