Geschichten aus der Müllerstraße
sind eine Musikgruppe aus Mazedonien und wollten eine Auftrittsgenehmigung für die U-Bahn beantragen. Die BVG sagt, dafür seien sie nicht zuständig, sondern das Bürgeramt Mitte. Da waren wir dann und es waren wenig Leute da. Vielleicht zwanzig oder so. Und da sagten die uns, das Bürgeramt Wedding wäre zuständig. Und jetzt schau dir das an. Das sind ja Hunderte, die da warten. Wir sind echt Dödel.«
Ich horche auf. Hat er gerade »Dödel« gesagt? Von einem Migranten hätte ich eher ein »Idiot« oder »Depp« erwartet, aber nicht »Dödel«. Der Mazedonier bedankt sich und geht wieder zu seinen Kumpanen. Kurze Zeit später beobachte ich zwei Teens. Das eine geht voran und scheucht die Tauben vor sich her, während das andere zögerlich folgt.
»Die doofen Dinger machen mir Angst«, höre ich es von dem einen Teen.
Das andere Teen antwortet: »Ich hab die verscheucht. Jetzt komm endlich.«
Als sie an mir vorbei sind, meint das eine Teen: »Die könnten uns ruhig so einen Sachbearbeiter nach draußen schicken.«
Ich schaue den beiden hinterher. Was glauben die, wo sie sind? Ich gehe wieder rein, setze mich hin und greife zu meinem Smartphone. Ich setze auf Facebook ein Posting ab und informiere alle meine Freunde über mein Dilemma. Kurz darauf antwortet der Erste und berichtet zu meinem Erstaunen, dass man beim Bürgeramt Wedding auch Termine vereinbaren kann. Ich klicke auf den mitgeschickten Link und lese kurz darauf: »Ab sofort können Sie auf Wunsch für alle Sprechtage einen Termin vereinbaren. Zur Terminvereinbarung rufen Sie uns bitte unter der Servicenummer an (4,99 € pro Minute) oder besuchen Sie unsere Website.«
Ich schaue zu den anderen Wartenden. Ob einer von denen von diesem Service weiß? Alle halten Wartemarken in den Händen. Ist keiner auf die Idee gekommen, im Internet nachzuschauen? Haben die alle kein Internet? Sind die alle hier, um eine Zuwendung zu beantragen, die ihnen Internet ermöglicht? Ich überlege, mein neues Wissen kundzutun, um allen hier eine Erkenntnis mitzuteilen, die das nervenaufreibende Warten im Bürgeramt künftig vergessen macht. Aber warum sollen die das wissen? Es reicht doch, wenn ich das weiß.
An einer Säule sehe ich ein Plakat und lese: »Schiller-Bibliothek – die Bibliothek im Bürgeramt. Warten Sie doch bei uns!«
Wenn das so gemeint ist, wie es da steht, dann rechnet offenbar niemand im Bürgeramt damit, dass irgendwer bei ihnen anruft, um einen Termin zu vereinbaren. Vielleicht haben die Angestellten Kameras installiert und erfreuen sich am Leid der Wartenden? Vielleicht wurde der Service gegen ihren Willen eingerichtet und sie tun alles dafür, dass niemand davon erfährt? Ich nehme das Smartphone, schreibe eine E-Mail an das Bürgeramt und frage, ob ich für jetzt gleich einen Termin haben kann. Kurz darauf kommt eine Antwort.
»Sitzen Sie im Wartesaal?«
»Ja«, schreibe ich zurück.
»Haben Sie eine Wartemarke gezogen?«, heißt es kurz darauf.
»Ja, die habe ich«, schreibe ich und bin zuversichtlich, dass gleich ein Sachbearbeiter erscheint und mich aufruft.
»Dann warten Sie Ihren Aufruf ab«, erfahre ich bald darauf.
Gefühlte acht Stunden später wird meine Nummer angezeigt. Die Sachbearbeiterin an Platz 14 nimmt meinen Ausweis entgegen, tippt etwas in den Computer und drückt mir dann eine Chipkarte in die Hand.
»Mit der gehen Sie über den Verbindungsgang in den Altbau und folgen dort der Beschilderung, die zur Kasse weist. Da zahlen sie dann die dreizehn Euro Bearbeitungsgebühr und kommen wieder hierher. Der Rekord liegt bei sechzehn Minuten. Viel Erfolg!«
Ich verstehe nicht, was mit dem Rekord gemeint ist, frage aber nicht nach. Das Gebäude, in dem das Bürgeramt sitzt, ist der Neubau. Direkt daneben steht der Altbau, wo so gut wie niemand mehr arbeitet. Wie befohlen gehe ich durch den Verbindungsgang zum Altbau und laufe durch lange, verlassene Flure und folge dabei den Richtungsschildern zur Kasse. Nach einer halben Stunde denke ich mir, dass sie die Kasse ruhig in die Nähe des Verbindungsganges hätten stellen können, während ich Treppen rauf- und runtersteige und keine Menschenseele erblicke. Dann endlich sehe ich die Kassenterminals vor mir und zahle die Gebühr. Der Automat spuckt eine Quittung aus und mit der trete ich den Rückweg an. Nach insgesamt einer Stunde sitze ich wieder am Schreibtisch der Sachbearbeiterin. Was mit dem Rekord gemeint ist, weiß ich jetzt.
»Ich habe gehört, dass es die Möglichkeit
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