Geschichten aus der Müllerstraße
hatte. Sechsunddreißig Stunden nur noch – das würde knapp werden.
Auf der Homepage des Bürgeramtes las ich staunend von der Möglichkeit, sich via Internet einen Termin geben zu lassen. Kann das sein? Wäre es möglich, dass die in den letzten Jahren irgendwas in Richtung Kundenfreundlichkeit … Ich rieb mir ungläubig die Augen. Dann, mit vor Aufregung zitternden Fingern, klickte ich den Link an, gab meine Angaben in das Formular ein, drückte ab – und wartete. Und wartete weiter. Ein Mailer-Daemon verkündete mir nach einer Weile, dass das Postfach des Bürgeramtes leider voll sei, ich solle mich mit dem Administrator der Seite in Verbindung setzen. Der Administrator der Homepage vom Bürgeramt Wedding. Guter Vorschlag. Ich lachte heiser auf.
Am Freitag trat ich meine Mission an. Bis zwölf hatte das Bürgeramt Sprechstunde, ich erschien um acht und reihte mich resigniert in die Schlange der Wartenden vor dem Info-Schalter ein.
»Internationaler Führerschein?«, fragte der Mann dort, als ich endlich drankam, »was woll’n Se denn damit? Das braucht doch kein Mensch.«
»Doch, ich brauche das«, seufzte ich.
»Ham Se denn alles dabei?«
Er ließ sich tatsächlich alles zeigen: Führerschein, Ausweis, Passbild. Vorher gibt’s keine Wartemarke. Damit die wertvolle Zeit der Sachbearbeiter nicht von Leuten geraubt wird, die den hohen Anforderungen des Bürgeramtes nicht gewachsen sind. Die es nicht wert sind, bis zum richtigen Schalter vorgelassen zu werden. Richtig so! Survival of the Fittest, hier im Bürgeramt Wedding, da gilt noch das eiserne Gesetz der Auslese. Ich aber war Profi, ich hatte in vorbildlicher Weise alles dabei. Neidisch schauten die Weddinger hinter mir in der Schlange auf mich.
Die Hälfte von ihnen würde wahrscheinlich bereits hier abgewiesen. Ich aber hatte die Hürde geschafft, ich erhielt das Privileg, eine Wartemarke ziehen zu dürfen. Ganz berauscht vor Glück setzte ich mich zu den anderen Auserwählten. Wir waren die Elite des Bezirks! Alles ging überraschend schnell. Schon drei Stunden später war ich dran.
Ich war gerade auf dem Weg in die Schalterhalle, als ich einen Tumult und lautes Jammern und Wehklagen aus dem Eingangsbereich hörte. Ah, elf Uhr. Da wird die Wartemarken-Ausgabe beendet. Wer jetzt noch in der Schlange stand, hatte die letzten Stunden vergeblich dort verbracht, der wurde unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Schaudernd wandte ich mich ab von den Bildern des Elends.
Das Bürgeramt Wedding ist ein Großraumbüro. Jeder Mitarbeiter sitzt hinter seinem Schreibtisch, mit einigen Stellwänden wird so etwas wie Privatsphäre simuliert. Ich trat an Schalter 5, den mir zugewiesenen.
Eine etwa fünfzigjährige, stämmige Frau saß dahinter und musterte mich misstrauisch. Hinter ihr stand ein Radio, aus dem ganz leise
Radio Paradiso
zirpte. Genau so leise, dass es nicht mehr bis zum nächsten Mitarbeiter am Schreibtisch daneben drang. Denn der hatte sein eigenes, leise vor sich hin zirpendes Radio. Aus dem, soweit ich das jetzt richtig wahrnahm, ebenfalls
Radio Paradiso
piepste.
»Wieso kommen Sie so spät?«, begrüßte die Frau mich freundlich. Ich war entzückt. Ich war in ein Original-Berliner Schutzgebiet geraten, völlig unbeleckt von allen Modernismen wie aufgesetzter Freundlichkeit und irgendwelchen albernen Service-Gedanken. Ich fühlte mich gleich um zwanzig Jahre jünger.
»Was woll’n Se denn überhaupt hier?«, blaffte die Frau weiter, während ich vor Behaglichkeit schnurrte und genoss: »Einen Internationalen Führerschein.«
»Wat woll’n Se?«, fragte die Frau. Großartig. Ob die extra geschult werden dafür? Vom Amt für Denkmalschutz vielleicht?
»Den Internationalen Führerschein«, erwiderte ich und spürte, wie meine Laune sich stetig besserte. Man muss es einfach anders sehen. Im Grunde war die Reise schon losgegangen. Klar, Chile, das würde sicher spannend werden. Aber mehr Exotik als dieses aus der Zeit gefallene Büro – die Frau hatte tatsächlich einen richtigen Gummibaum an ihrem Platz stehen, ach was: zu stehen! –, mehr Exotik und Abenteuer würde Südamerika mir auch nicht bieten können.
»Wat woll’n Se denn mit dem Ding?«, flötete die Berliner Indígena mir entgegen, und fröhlich erwiderte ich: »Ich reise morgen nach Südamerika, da braucht man so was.«
»Quatsch«, schimpfte die Dame, »wat soll’n die denn in Südamerika damit? Das Ding braucht kein Mensch!«
Großartig, sie war wild
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