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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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sondern ihn tatsächlich auch zu Ende renoviert hat. Entgegen der diesjährigen Mode in Sachen Auslegeware ist es kein fleischfarbenes, marmoriertes PVC, sondern ein weinroter Sisalteppich, der die frischlackierten Treppen schmückt. Immer wieder klingeln jetzt wildfremde Weddinger aus der Nachbarschaft an unserer Haustür und rufen durch die Gegensprechanlage: »Wir wollen den Teppich sehen!« Dann drücke ich auf den Summer und laufe ihnen entgegen, mit einem Korb voller Souvenirs, Ansichtskarten und Erfrischungsgetränke.
2
    Im dritten Stock, auf halber Treppe, sitzt ein Mann und schläft. Er trägt keine Hose. Nur ein T-Shirt mit der Aufschrift »Jürgens letzte Nacht in Freiheit« und am rechten Fuß einen weißen Socken. Obgleich der Drang besteht, wäre es doch äußert unschicklich, angesichts solch einer misslichen Lage Schindluder mit ihm zu treiben. Waren wir nicht alle schon einmal in so einer unvorteilhaften Situation? Vom Alkohol, diesem teuflischen Verführer, zu Boden gerungen? Ganz gleich, wo wir gegangen waren, gesessen hatten oder gestanden? Liegend an einer Bushaltestelle, in einer U-Bahn, in einem Kühlregal oder unter einem wildfremden Menschen, der nur Stunden später auf wundersame Weise so sehr an Attraktivität verlor, dass wir nur hoffen konnten, dass es ihm mit uns nicht anders gehen möge? Was für ein Mensch wäre ich, diesem hilflosen, schlafenden Geschöpf in dieser beschämenden Situation nicht meinen Beistand anzutragen. Schnell laufe ich zurück in meine Wohnung und hole einen zweiten weißen Socken.
3
    Meine Nachbarin aus dem zweiten Stock hat sich Geld von mir geborgt. »Am Ende des Monats bekommst du es zurück!«, hat sie gesagt. Das ist jetzt zwei Jahre her.
4
    Im Seitenflügel gegenüber sind neue Mieter eingezogen. Ein Pärchen aus dem Prenzlauer Berg. Gestern Nacht, gegen drei Uhr morgens, klingelt es panisch an meiner Wohnungstür. Schlaftrunken wanke ich in den Flur und öffne.
    »Entschuldigen Sie bitte«, flüstert es mir entgegen. »Wir sind Ihre neuen Mieter von gegenüber. Könnten Sie vielleicht bei Ihrem Nachbarn unter Ihnen klingeln und ihn bitten, die Musik etwas leiser zu machen? Wir müssen morgen arbeiten.«
5
    Meine Nachbarin von oben drüber ist gehbehindert. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, wurden der armen Kreatur die Unterschenkel amputiert und durch zwei Blöcke Braunkohlebriketts ersetzt. Ich finde es bewundernswert, wie sie sich trotz dieses beträchtlichen Schicksalsschlages ein Stück Normalität bewahrt hat. Es rührt mich jedes Mal zu Tränen, wenn sie mitten in der Nacht mit Inbrunst ihre Stepptanzschritte einstudiert.
6
    Ich bin gestürzt. Auf den Stufen der Treppe im zweiten Stock hat sich der rote Sisalteppich gelöst. Ich beschließe, einen Brief an meine Hausverwaltung zu schreiben:
    Sehr geehrter Herr Künerich
,
    hiermit informiere ich Sie darüber, dass sich der rote Sisalteppich in unserem Treppenhaus an verschiedenen Stellen gelöst hat. Ferner möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir eine gehbehinderte Person hohen Alters in unserem Hause haben. Der gelöste Teppich stellt somit eine besondere Gefahrensituation dar. Ich bitte Sie daher darum, diese Mängel alsbald zu beseitigen
.
    Mit freundlichen Grüßen
    Paul Bokowski
    Freunde von mir sagen, ich schriebe Briefe wie ein autistischer Nazi. Wenige Tage später erreicht mich die Antwort meiner Hausverwaltung:
    Sehr geehrter Herr Bokowski
,
    wir haben die von Ihnen beschriebenen Mängel zur Kenntnis genommen. Sollte es sich bei der von Ihnen erwähnten »gehbehinderten Person hohen Alters« um Margot Sackmann aus dem vierten Stock handeln, so sind wir gerne bereit, einen etwaigen Personenschaden wissentlich in Kauf zu nehmen
.
    Mit freundlich Grüßen
    Harry Künerich
7
    Meine Nachbarin aus dem zweiten Stock hat bei mir geklingelt. Sie hätte mir doch irgendwann mal Geld geborgt, sagt sie, das bräuchte sie jetzt ganz dringend zurück. Ich kläre sie darüber auf, dass ICH es war, der IHR Geld geborgt hatte. Gut, sagt sie und streckt ihre offene Hand nach mir aus. Dann wisse ich ja, dass sie kreditwürdig sei.
8
    Abermals finde ich einen Brief meiner Hausverwaltung in meinem Briefkasten:
    Sehr geehrter Herr Bokowski
,
    nach Durchsicht unserer Unterlagen ist uns aufgefallen, dass Sie eines unserer Objekte im Wedding bewohnen! Sie werden deshalb sicherlich nachvollziehen können, dass es sich bei dem neu verlegten Sisalteppich um einen Irrtum unsererseits handelt. Wir

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