Geschichten aus der Müllerstraße
»Cholera« Taxifahrer. Letztere lungern rechts vor
Karstadt
, um plötzlich Fahrertüren in den fließenden Verkehr zu werfen oder blinde Kavalierstarts auf die Mittelspur zu machen.
Die gemeinen Linksabbieger tarnen sich zunächst harmlos als Geradeausfahrer auf der linken Spur, um mitten auf der Kreuzung abrupt auf null abzubremsen und mit links eingeschlagenem Lenkrad als Hindernis rumzustehen. Der Stadtteil ist bekanntlich arm; die Weddinger haben ja nichts. Nicht mal Blinker. Nur tiefergelegte Golf GTIs mit dunkellackierten Scheiben und schwarze 3er BMWs. Typisch dürfte im Weddinger Autohandel folgendes Verkaufsgespräch sein:
»Hassu dicke BMW für misch?«
»Habisch 3er BMW, Coupé.«
»Auch gut.«
»Is voll tiefergelegt mit Alufelgen, Dolby Surround und weißes Nappaleder.«
»Nappaleder? Is’ das von Kuh oder von Schaf?«
»Weiß nisch, Alter. Vermutlich von weiße Nappas.«
»Was soll kosten?«
»Zwanzischtausend.«
»Zwanzischtausend? Hab isch nich, Alter.«
»Geht auch billiger, wenn isch lass Alufelgen und Dolby Surround weg.«
»Ohne Alufelgen und Dolby, willst du misch verarschen, Alter? Nee komm, lass ma Blinker weg.«
Es gibt nur eins, das noch schlimmer ist als linksabbiegende BMWs oder Taxifahrer vor
Karstadt
: BMW-Taxifahrer vor
Karstadt
, die links abbiegen wollen.
Robert Rescue
Zukunftsvision Wedding 2015
Eine Dystopie
Die Nachricht, dass das Jobcenter Mitte in den Wedding gezogen ist, hat eine Menge Weddinger erfreut, wobei »erfreut« nicht das richtige Wort ist, wenn jemand noch die Hoffnung hat, dem Amt Lebewohl zu sagen. Das Positive daran ist eher, dass die Weddinger jetzt einen kürzeren Weg haben als die Moabiter, Tiergärtner und die Bewohner von Mitte, genannt »Leute aus Mitte«. Ich beispielsweise laufe einfach vor zur Müller-/Ecke Seestraße und dann runter zum Leopoldplatz. Da gebe ich entweder einen Antrag ab, wie ich es routinemäßig alle sechs Monate mache, oder erzähle einer Sachbearbeiterin, welche Zukunft ich für mich noch sehe, nämlich gar keine. Die immer wechselnden Sachbearbeiterinnen können so eine Äußerung nicht dulden und schauen dann in meinen Datenbankeintrag, ob sie noch was für mich tun können. Dort stoßen sie auf einen bestimmten Hinweis, der jedes weitere Bemühen ihrerseits im Keim erstickt, und entlassen mich wieder. Das mit den Terminen ist eigentlich Mumpitz, denn die laufen immer so ab. Der Computer wählt mich aus, gibt mir einen Termin und ignoriert dabei den Hinweis.
Dann setze ich meinen Weg fort zum U-Bahnhof »Hier bitte nicht aussteigen, außer Sie haben einen Termin«, wo ich beim BND mit meinem Führungsoffizier verabredet bin. Beim Ein- oder Aussteigen treffe ich manchmal auf Kumpels aus der Stammkneipe und wir nicken uns zu. Bei denen weiß ich dann, dass die zurückhaltend sein werden, wenn ich das Gespräch mit ihnen suche, aber aus Erfahrung wissen wir alle, dass ein paar Bier die Zunge schon lösen. Meinem Führungsoffizier erzähle ich zunächst vom Besuch beim Jobcenter, weil er sich gleich danach erkundigt, und frage ihn wie immer, warum ich da alle paar Monate auftauchen muss, obwohl ich doch eigentlich gar nicht mehr arbeitslos bin. Mein Führungsoffizier lächelt zunächst, bevor er mir haarklein erklärt, dass diese Besuche wichtig seien, weil ich dann am Abend zuvor in der Stammkneipe auch wahrheitsgemäß erzählen kann, dass ich morgen einen Termin beim Jobcenter habe. Er wird auch sagen, dass ich immer mal Leute aus der Kneipe in der Warteschlange treffe und dass diese »Präsenz«, wie er es nennt, wichtig sei, um keinen Verdacht zu erwecken.
Er wird mich fragen, wie ich denn jemanden einschätzen würde, der behauptet, mit dem Amt zu tun zu haben, der aber nie etwas darüber oder nur Falsches erzählen kann?
Das sei wohlüberlegt von ihm, dass er seine Leute dort hinschickt. Ich werde wie immer verstehend nicken und anschließend fragen, ob wir unser »berufliches Verhältnis«, wie er es nennt, nicht beenden können, weil mir die Rolle als Informant psychisch zusetzt. Nein, wird er sagen, so wie Sie sind und was Sie sind, sind Sie für uns am nützlichsten und außerdem, das sagt er immer mit besonderer Betonung, brauchen Sie doch den Zuverdienst. Schöne neue Welt …
Paul Bokowski
Zeichen und Wunder
1
Auch in der Müllerstraße geschehen noch Wunder: Die Hausverwaltung hat unseren Hausflur renoviert. Wobei das eigentliche Wunder darin besteht, dass sie nicht nur voller Elan damit angefangen,
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