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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Liebe vorurteilsfreier verfolgen zu können. Der Widerspruch ist so auffallend, dass wir uns fragen müssen, woher er rührt. Dazu möchte ich zunächst an einigen Beispielen die verschiedenen Möglichkeiten der Abwehr illustrieren.
    Unvergesslich ist mir eine Patientin, die im Vorgespräch bei der Erhebung ihrer Familiengeschichte sagte: »Meinen Bruder können Sie weglassen.« Auf meine Frage, wie sie das meine, sagte sie: »Na ja, er hat in der Familie keine Rolle gespielt.« Wie die Analyse dann erwartungsgemäß zeigte, diente die scheinbar perfekte Gleichgültigkeit der Abwehr verletzender Erfahrungen, die bis ins frühe Erwachsenenalter gereicht hatten und nur durch einen völligen Kontaktabbruch beendet werden konnten. Tatsächlich schien die Patientin nichts mehr für ihren Bruder zu empfinden und hatte auch konkrete Erinnerungen aus der gemeinsamen Kindheit nahezu vollständig aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Hinter der Gleichgültigkeit verbargen sich also zwei weitere Abwehrmechanismen, die Verdrängung und die Verleugnung.
    Zur Begriffsklärung: Als Verdrängung bezeichnet man einen Vorgang, bei dem sowohl konkrete Ereignisse wie die dazugehörigen Gefühlstönungen aus der Erinnerung gelöscht werden. Bei der Verleugnung bleibt dagegen das Ereignis im Bewusstsein bestehen, während die begleitenden Gefühle nicht mehr erlebt werden können.
    Erst in dem Maße, wie sich bei der Patientin diese Abwehr durch eine intensive Traumtätigkeit löste, konnte sie ihre gleichgültige Fassade aufgeben und sich an die für sie traumatischen Erfahrungen erinnern. So hatte der Bruder sie häufig verprügelt, sie vor anderen Kindern gehänselt und lächerlich gemacht, ihre liebste Puppe zerstört und sie nach Strich undFaden ausgenutzt. In diesem Stadium verleugnete sie noch alle positiven Gefühle, obwohl bei der schmerzlichen Durcharbeitung ihrer Erinnerungen mit der Zeit immer mehr auch liebevolle Kindheits- und Jugendszenen auftauchten. Erst die Aufhebung auch dieser Verleugnung ließ ihre tiefe Sehnsucht erkennen und machte die Patientin für eine neue Begegnung mit dem Bruder frei, bei der beide an ihre verschüttete Geschwisterliebe anknüpfen konnten.
    Aber es gibt noch einen anderen verbreiteten Abwehrmechanismus, mit dem die Sehnsucht nach Geschwisterlichkeit, nach Anerkennung und Zuwendung verborgen wird, die Umkehrung. Als ein typisches und weit verbreitetes Muster der Interpretation von Geschwisterbeziehungen schreibt Margarete Berger unter Berufung auf zahlreiche Literatur: »Es besteht weitgehend Einigkeit in der Auffassung, dass die ersten Gefühle eines Kleinkindes zum neuen Geschwister negativ sind und eine primäre Feindseligkeit abgewehrt werden muss.« 11
    Die »primäre Feindseligkeit« ist der zentrale Fokus im Dienste der Verleugnung der »primären Liebe«. Es ist unbestritten, dass Neid, Rivalität und andere destruktive Gefühle zwischen Geschwistern eine bedeutende Rolle spielen können; davon soll im zweiten Teil des Buches die Rede sein. Die Verleugnung und Verdrängung der Geschwisterliebe und ihre zusätzliche Umkehrung zu einer »primären Feindseligkeit« ist aber nicht nur innerhalb der Wissenschaft geläufig, wobei insbesondere die Psychoanalyse ein ungutes Erbe hinterlassen hat. Auch in der Öffentlichkeit und im allgemeinen Kontakt zwischen Menschen hat die Geschwisterliebe kaum einen Raum. Es entspricht allgemeinen Erfahrungen, dass im Gespräch über Geschwister, sofern überhaupt über sie gesprochen wird, häufig zunächst die Schattenseiten der Beziehung in den Vordergrund rücken. So bin ich seit Jahren der Beschäftigung mit dem Thema nicht mehr sonderlich über die Ratlosigkeitvieler Bekannter überrascht, wenn ich von »Geschwisterliebe« spreche. »Mir fällt zuerst nur Geschwisterneid und -hass ein«, ist eine häufige Reaktion.
    In ausgeprägter Form tritt das Phänomen in psychotherapeutischen Behandlungen zutage. Anders als die bereits genannte Patientin, die ihren Bruder »weglassen« wollte, berichten die meisten zuerst über die negativen Seiten der Beziehung, wobei sie sich während der Durcharbeitung dieser Thematik in ihre destruktiven Affekte regelrecht hineinsteigern können. Wenn dann der tief verborgene Wunsch nach Nähe zugelassen werden kann, wirkt der Patient wie befreit.
    Damit können wir zu der Ausgangsfrage zurückkehren, woher der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Geschwisterliebe und ihrer oft so hartnäckigen Abwehr stammt. Eine erste

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