Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Kontext lebensgeschichtlicher Konfliktbewältigungen bisher viel zu wenig als innerer Stabilisator gesehen wurde. 9
Die bereits zitierte Geschwisterstudie des Max-Planck-Instituts liefert diesbezüglich einige wichtige Hinweise. In der Untersuchung wurden nicht nur die positiven und negativen Verhaltensweisen des älteren zu dem jüngeren Geschwister untersucht, sondern auch umgekehrt. Allerdings erlaubte die Methode bei den jüngeren Geschwistern nur die Auswertung in der 2. und 3. Phase (9.–18. Monat und 18.–24. Monat). Dabei ergaben sich folgende Durchschnittswerte:
Positives Verhalten gegenüber älterem Geschwister:
2. Phase 9,2; 3. Phase 6,6
Negatives Verhalten gegenüber älterem Geschwister:
2. Phase 2,8; 3. Phase 4,8
Die positiven Verhaltensweisen überwiegen also auch bei den jüngeren Geschwistern. Dies betrifft vor allem die Zeit um das erste Lebensjahr. Mit zunehmender Selbstständigkeit und daraus resultierenden Konflikten nehmen die positiven Reaktionen ab, übertreffen aber auch im zweiten Lebensjahr noch deutlich die negativen.
Wenn man das positive Verhalten als Ausdruck der Geschwisterliebe auffasst, zeigt sich insgesamt eine enge Wechselseitigkeit zwischen den Geschwistern, die in die früheste Zeit ihrer Beziehung zurückreicht.
Die moderne Bindungsforschung ergänzt das Verständnis für die Entwicklung der Geschwisterliebe durch einen anderen Ansatz, indem sie nach den angeborenen Motiven für ein positivesBindungsverhalten fragt. Umfangreiche Untersuchungen konnten bestätigen, dass die Elementarbedürfnisse des Säuglings nach Schutz und Sicherheit bei ihm genetisch vorprogrammierte Verhaltensmechanismen auslösen, die in der Umgebung ein ebenfalls konstitutionell vorgegebenes Bindungsrepertoire aktivieren. So reagieren nicht nur die Eltern auf das Anklammern, Nachlaufen, Schreien oder Lächeln des heranwachsenden Babys mit einem Verhalten, das alle Facetten elterlicher Liebe umfasst und Sicherheit vermittelt. Auch bei älteren Geschwistern funktioniert dieser Reiz-Reaktionsmechanismus in erstaunlich ausgereifter Form. Wer Geschwister in gemeinsamen Aktionen beobachtet, kann darüber lange Geschichten erzählen.
Das große Verdienst der Bindungsforschung liegt darin, solche Zusammenhänge nicht nur empirisch nachgewiesen, sondern auch theoretisch begründet zu haben. Die aufregendste Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, lautet: Nicht nur sind Eltern und Kinder durch ein differenziertes und wechselseitig wirksames Bindungsprogramm der Liebe verbunden, sondern auch Geschwister. 10
2. Die Geschwisterliebe wird gefestigt
Nachdem sich in der Vorgeburtsphase und in den ersten Monaten nach der Geburt die beiden ersten Kerne der Geschwisterliebe gebildet haben – der Vorläufer der Objektliebe und die narzisstische Besetzung des Objekts –, findet in der folgenden Zeit eine Ausdifferenzierung statt, bei der die Geschwisterliebe immer reifere Formen annimmt.
Mehr als alle Theorie kann uns die konkrete Anschauung die subtilen Vorgänge verdeutlichen, die diesen Reifungsprozess gestalten. Dazu wähle ich ein fiktives Geschwisterpaar, dessen Entwicklung wir eine Zeit lang begleiten wollen. Es soll uns die Identifikation und die Rückerinnerung erleichtern, mit der wir uns unserer eigenen Geschichte noch einmal vergewissern können.
Das ältere Kind nennen wir Klaus, das jüngere Lisa. Die Wahl eines Bruder-Schwester-Paares erleichtert die Beschreibung geschlechtstypischer Entwicklungsmerkmale. Außerdem scheint diese Paarkonstellation im Allgemeinen weniger konfliktanfällig zu sein als Bruder-Bruder- und Schwester-Schwester-Paare. Das bedeutet nicht, dass bei diesen beiden Konstellationen die Geschwisterliebe geringer ausgeprägt sein muss; sie wird häufig nur auf eine größere Probe gestellt. Unser fiktives Paar könnte auch aus einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder bestehen. Nach allen Erfahrungen gleichen sich jedoch die Vor- und Nachteile der einen oder der anderen Konstellation im Laufe der Geschwisterbeziehung aus.
Lisa hat inzwischen sitzen und stehen gelernt und macht die ersten unbeholfenen Gehversuche. Immer wieder fällt sie hin. Klaus, er ist jetzt drei Jahre alt, hebt sie auf, stützt sie, wenn sie schwankt, nimmt ihre Hand und geht mit ihr bis zum nächsten Stuhl. Dort kann sie sich ausruhen. Sie lässt sich hinplumpsen, hat noch zu wenig Kraft. Aber spielen, das will sie. Sie jauchzt, wenn Klaus ihr einen Ball
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