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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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einseitig sexuell gedeutet werden, verdanken wir der Psychoanalyse, die mit der Entdeckung der kindlichen Sexualität vor 100   Jahren einen öffentlichen Schock auslöste. Allerdings müssen wir Freud gegen die Gläubigkeit in Schutz nehmen, mit der noch heute seine damals revolutionären Erkenntnisse verbreitet werden. In dem Spielfilm »Lovesick   – Der liebeskranke Psychiater« 14 amüsiert sich Alec Guinness als Sigmund Freud des Jahres 1983 über die konservative Haltung, mit der heutige Psychotherapeuten seine damaligen Einsichten zu Dogmen erklärt haben und ohne zeitgemäße Erweiterungen an ihnen festhalten. Wahrscheinlich wäre Freud, wenn er Lisa und Klaus heute bei ihren Spielen beobachten würde, erheitert über seine damalige Theorie von Lisas Penisneid und von Klaus’ Kastrationsangst und würde der feministischen Kritik zustimmen. Sicher würde er die Tatsache akzeptieren, dass Lisa mit Interesse, Neugier, auch mit Freude den Penis von Klaus anschaut, ihn anfasst und damit spielt – schließlich erzeugt das auch bei ihr angenehme kitzlige Gefühle; außerdem bewundert sie Klaus ein bisschen, weil er mit seinem Glied in einem so weiten Bogen pinkeln kann und sich dabei nicht hinhocken muss. Bei Klaus, auch das würde Freud heute nicht entgehen, dominiert ebenfalls ein deutliches Lustgefühl, wenn er Lisas Scheide betrachtet und untersucht; er ist fasziniert von der Klitoris, dem dunklen Loch und dem gewaltigen Urinstrom, wenn sie sich breitbeinig zumPinkeln auf eine Wiese setzt. Warum sollte er erschrecken, dass sie keinen Penis hat? Erste Erektionen lassen ihn doch ahnen, dass er seinen Penis in ihr Loch hineinstecken kann. Eine ideale Ergänzung. So, wie es die Eltern zu machen scheinen.
    Vielleicht würde Freud heute auch über die Prüderie seiner Zeit lachen, die ihn dazu verführt hat, in der »Urszene« ein kindliches Trauma zu erblicken. Die erste Beobachtung des Geschlechtsaktes der Eltern, so seine damalige Version, ängstige das Kind, weil es darin die Zufügung nackter Gewalt erlebe. Die lustvolle körperliche Verschmelzung der Eltern, der sanfte, zeitweilig schnelle Rhythmus ihrer Bewegung, der kurze erlöste Schrei, das Stöhnen oder auch das Lachen und die zärtliche Umarmung danach – eine erregende Erfahrung für Kinder, ja, aber ein Trauma? Freud schüttelt den Kopf. Was kann es für Kinder Schöneres geben, als sich die Eltern lieben zu sehen, ihre Ausgeglichenheit, ihr Lächeln, ihr Glück danach? Klaus und Lisa machen es nach, wenn sie »Vater-Mutter« spielen. Lisa muss sich hinlegen, und Klaus rutscht etwas hilflos auf ihr herum, Lisa lacht, das ist zu komisch.
    Lieber spielen sie »Mutter-Kind« oder »Vater-Kind«. Das ist abwechslungsreicher. In den verschiedenen Rollen können sie symbolisch die Bedürfnisse, Gefühle, auch die Konflikte zum Ausdruck bringen, die zwischen den Eltern und ihnen bestehen. Auf diese Weise begreifen sie nicht nur ihre eigenen Reaktionen besser, sondern auch die der Eltern im Spiegel des Kindes, das gerade eine Elternrolle einnimmt. Rollenspiele gehören zum unverzichtbaren Bestandteil jeder Kindertherapie. Durch solche Rollenspiele werden erfahrungsgemäß neue Verhaltensmuster und ein angemessener Umgang mit Konflikten eingeübt. Nicht zuletzt erleichtern solche Spiele den schwierigen Prozess der Ablösung von den Eltern.
    So beschleunigt die Geschwisterliebe nicht nur die Ablösung, sondern ist umgekehrt auch ein mächtiges Bollwerk gegenelterliche Vereinnahmung. Unter den wenigen Sätzen in der psychoanalytischen Literatur, die positive Aspekte der Geschwisterbeziehung erwähnen, findet sich folgender bei Erich Fromm, der die Geburt eines Geschwisters mit der Ablösungsthematik in Verbindung bringt: »Tatsächlich hat ein solches Ereignis oft einen gesunden und durchaus keinen traumatischen Einfluss, da es die Gründe für die Abhängigkeit von der Mutter und die sich daraus ergebende Passivität reduziert.« 15
    Unausgesprochen bestätigt auch dieser Satz die bereits zitierte Lehrmeinung vom Trauma der Geburt eines Geschwisters. Fromm hat seinen davon abweichenden Gedanken nicht weiter ausgebaut, wie überhaupt die Geschwisterbeziehung, geschweige denn die Geschwisterliebe in seinem umfangreichen Werk kaum auftaucht. Dies ist umso erstaunlicher, als Fromm als namhafter Vertreter der psychoanalytischen Sozialpsychologie gilt, der zeit seines Lebens um die Versöhnung der destruktiven Kräfte im Individuum, in der Familie und in der

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