Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Erinnerungen eingewoben wie die Farben in dem Federkleid eines Vogels; und sie beherrschen unser Denken und Empfinden, unser Verhalten und unser Handeln mehr als alle Außenerfahrungen und stärker, als uns je bewusst wird.
So unentbehrlich die äußere Welt für unsere Persönlichkeitsentwicklung ist, so einzigartig und prägend bleibt die Binnenstruktur der Familie für unser Gefühl von Identität. Der Psychoanalytiker Hans Sohni unterscheidet dabei zwischen einer vertikalen Achse, auf der die Beziehung der Eltern zu den Kindern angelegt ist, und einer horizontalen Achse, die die Geschwisterbeziehung bestimmt. Letztere sei deswegen konfliktfreier und enger, weil sie weitgehend unbelastet vom Macht-Ohnmacht-Gefälle und von dem Abhängigkeits-Freiheits-Paradigma in der Eltern-Kind-Bindung existiere. Deswegen erlaube sie auch mehr körperliche und affektive Nähe, und durch die ausgedehnte Zeit der Zweisamkeit und den angstfreien, unambivalenten Umgang einen breiteren kognitiven und sozialen Austausch.
Sohnis Unterscheidung ergänzt die bisher herangezogenen theoretischen Begriffe um einen wichtigen Aspekt zum besseren Verständnis des geschwisterlichen Beziehungsreichtums, Begriffe wie Nachahmung, den Bindungsvorgang, die narzisstische Spiegelung, die Identifizierung und die Introjektion des Geschwisters mit dem inneren Umbau zu einer Geschwisterrepräsentanz. Aber letztlich bleiben alle diese Begriffe im Hinblick auf die Geschwisterliebe unspezifisch, wenn man bedenkt, dass sie psychische Vorgänge beschreiben, mit denen der Mensch grundsätzlich sein Ich, sein Selbst und seine Kommunikation mit anderen generiert. Das betrifft besonders denBegriff der Liebe, um dessen Definition jede Theorie einen weiten Bogen macht. Deswegen habe ich mich bisher auch bemüht, ihn durch den Gebrauch allgemeiner Verhaltensmuster und prosozialer Werte zu umschreiben. Wenn man sie noch einmal zusammenfasst, kommt man zu folgender Reihe: das Gefühl wechselseitiger Anwesenheit, Zärtlichkeit, Bestätigung und Bewunderung; die im Lachen aufgehobene gemeinsame Fröhlichkeit und Freude; die Erfahrung von Hilfe, Schutz, Sorge, Orientierung, Mutmachen und Vorbildsein; das gemeinsame Erlernen von Sprache, sozialer Verantwortung, Teilung von Besitz; das Abenteuer der ersten Welteroberung; die Bewältigung von Schwierigkeiten durch Gedanken- und Gefühlsaustausch und gemeinsames Handeln; die Grunderfahrung sexueller Lust und sexueller Identität, und die leichtere Ablösung vom Elternhaus.
Dieses Spektrum an menschlicher Erfahrung macht jenseits aller theoretischen Begrifflichkeit deutlich, dass Geschwisterliebe durch keine andere Liebe ersetzbar ist, dass sie eine unverwechselbare Form der Beziehung zwischen zwei oder mehreren Geschwistern darstellt, die von Lebensbeginn an und für das ganze Leben miteinander verbunden sind. Ob für Bruder und Schwester, ob für zwei Schwestern, zwei Brüder oder eine größere Geschwistergruppe – die Grundlagen der Geschwisterliebe, die Nähe und die enge Verwandtschaft in ihrer ererbten und mehr noch in ihrer lebensgeschichtlich erfahrenen Bedeutung sind die gleichen. Einzelne Facetten variieren mit der Art der Gruppe, Vorzüge und Nachteile gleichen sich aus. In der frühen Kindheit wird das wichtigste Fundament gelegt. Vielleicht liegt hier auch eine der möglichen Antworten auf das Geheimnis, das Rätsel und das Wunder der Geschwisterliebe: Es ist die Einheit biologischer, seelischer und sozialer Zusammengehörigkeit, die sich von jeder anderen Beziehung unterscheidet.
Aber ein Begriff bedarf hier noch einer Erläuterung, weil ihm für die Geschwisterbeziehung eine besondere Bedeutung zukommt – die De-Identifikation. Bei der Identifikation macht der Einzelne in der Fantasie bekanntlich Eigenschaften und Fähigkeiten des anderen zu den eigenen nach dem Motto »Ich bin wie du« oder »Ich will so sein wie du«. Dadurch erweitert er die Möglichkeiten seines Selbsterlebens und Handelns, wodurch das Ich schrittweise seine Kraft und Kompetenz vergrößert und damit seine Identitätsbildung vorantreibt.
Der reifere Schritt zur Identität erfolgt mit dem Gegenstück zur Identifikation – mit der Separation. Mit ihr erfolgt in der Regel auch die De-Identifikation, bei der die Identifikation zurückgenommen und aufgelöst wird. Die De-Identifikation gehört zu den entscheidenden und notwendigen Mechanismen, mit denen das Ich seine Autonomie gegenüber anderen behaupten lernt. Gerade in der engen
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