Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Gesellschaft gekämpft hat. In diesem Zusammenhang die Bedeutung der Geschwisterliebe so kategorisch zu übersehen ist kennzeichnend für das Tabu, von dem oben die Rede war; aber auch für den subjektiven Faktor, der Wissenschaft beeinflusst: Fromm war Einzelkind. Dieser biografische Hintergrund reizt zu der spekulativen Frage, wie wohl die Konzeption der Geschwisterbeziehung und ihr Einfluss auf die Wissenschaft bei Fromm unter der Bedingung von sechs jüngeren Geschwistern – wie bei Freud – ausgefallen wäre.
Dazu lässt sich ergänzend feststellen, dass in der gesamten psychoanalytischen Literatur bis heute Geschwisterbeziehungen nahezu ausschließlich unter familiären Entwicklungsbedingungen diskutiert werden. Deswegen hier noch einmal die Ausgangsfrage: Welche Auswirkungen zeitigt die außerfamiliäre Sozialisation wahrscheinlich auf die Geschwisterbindung? Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass Krippen,Kitas und Schulen die Ablösung vom Elternhaus beschleunigen. Plausibel wäre in diesem Zusammenhang die Annahme, dass die fortschreitende Abnabelung vom Elternhaus nicht nur mit einer zeitlichen, sondern auch emotionalen Verdünnung des Kontaktes zwischen den Geschwistern verbunden ist. Schließlich haben sie in ihren neuen Lebensräumen genügend Alternativen bei der Suche nach Spielgefährten. Zu ihnen entstehen mit zunehmendem Alter immer dichtere Bindungen, aus denen mehr oder weniger beständige Freundschaften werden. Die vielseitigen Identifikationsmöglichkeiten in der Gruppe könnten die Geschwisterbindung weiter auflockern und die Geschwisterliebe in den Hintergrund treten lassen. Solche Entwicklungen wären besonders für Krippenkinder zu befürchten, deren Bindungen zu den Eltern und Geschwistern mit einem Jahr noch nicht so tief verwurzelt sind, als dass sie den Stürmen der affektiven Überstimulierung durch erzwungene Fremdkontakte gewachsen wären.
Von sozialistischen Erziehungsexperimenten, wie sie zum Beispiel von der Kibbuzerziehung praktiziert wurden, oder seit der Hospitalismusforschung mit Beginn der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die verbunden ist mit den Namen von Réne Spitz, John Bowlby, Anna Freud und D. W. Winnicott, wissen wir zumindest Folgendes: Kleinkinder, die zu früh und zu lange von der Mutter getrennt werden, erleiden bleibende psychische Defizite besonders in Bezug auf das Kontaktverhalten und die Bindungsfähigkeit. Neuere Befunde legen solche Folgen auch beim frühen Verlust des Vaters nahe. Für Geschwister stehen entsprechende Forschungen aus; aber nach allen bisherigen Überlegungen dürfte die langfristige oder dauerhafte Trennung von einem Geschwister ebenso zu Störungen des Bindungsverhaltens führen.
Aber um solche dramatischen Verläufe geht es bei der Krippenerziehung zum Glück nicht. Dennoch lässt sich beim heutigenKenntnisstand der Verdacht nicht gänzlich ausschließen, dass speziell die Krippenerziehung einen Bruch in der Entwicklung der Geschwisterbindung und Geschwisterliebe verursachen könnte. Aus optimistischer Perspektive wird dieser Bruch durch all das kompensiert, was Geschwister an kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen durch die Gruppe erworben haben und als befruchtend in ihre Beziehung einbringen.
Daraus ergibt sich das faszinierende Wechselspiel der Entwicklung fördernden Einflüsse zwischen der Geschwistergruppe mit ihrem geschilderten Erfahrungsreichtum und der Peergroup.
4. Geschwisterliebe – ein Rätsel, ein Wunder, eine Realität
Nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit dem Lebensschicksal von Menschen aller Altersgruppen bleiben es für mich die größten Geheimnisse, Rätsel und Wunder, wie tief verwurzelt jeder Einzelne für sein ganzes Leben mit seiner Herkunftsfamilie verbunden bleibt, mit den leiblichen Eltern ebenso wie mit den Geschwistern.
Wenn wir die Vielzahl der Einflüsse bedenken, die von außerhalb der Familie unseren Lebensweg mitbestimmt und lenkt, angefangen von der Krippe über die vielen Stationen unseres schulischen und beruflichen Werdegangs und der unzähligen Menschen, die uns auf diesem Weg Halt und Orientierung gaben als Lehrer, als Kollegen, als Vorgesetzte, als Freunde, als Partner, dann bleibt trotz alledem folgende Tatsachebestehen: Die Fäden, die uns mit unseren Familienangehörigen verbinden, mögen sie innerlich noch so brüchig oder äußerlich zerrissen erscheinen, sind in unsere Charakterstruktur, unser Lebensgefühl, unser Gedächtnis und unsere
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