Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Verbundenheit zwischen Geschwistern kann daher ihre Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber darin sind sich Geschwister selbst meistens eine entscheidende Hilfe, da sie durch den dauerhaften Kontakt in den ersten Lebensjahren gleichzeitig mit der Andersartigkeit des Geschwisters konfrontiert werden, mit seinem anderen Aussehen, seiner eigenen Sprache und Fantasie, seinen anderen Interessen, seinem eigenen Charakter, seinem anderen Geschlecht. Je betonter der andere seine spezifischen Konturen gewinnt, umso genauer nehme ich meine eigenen wahr. Die Gestaltpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von »Gestalt« und meint damit die Summe aller Einzelmerkmale einer Person, ihre Ganzheit, die sich in ihrer Einmaligkeit von der »Gestalt« eines anderen unterscheidet. In dem Maße, wie Geschwister füreinander »Gestalt annehmen«, grenzen sie sich auch voneinander ab und bilden ihre eigene Identität aus. Eine reife Objektliebe kann zwischen ihnen nur entstehen, wenn sie das Stadium der narzisstischen Spiegelung und der Identifikationin der anfänglichen Intensität aufgeben und im Bruder oder in der Schwester nicht mehr das Gleiche, sondern das Andere annehmen können. In diesem Fall wird der Unterschied nicht zum Trennenden, sondern zur idealen Ergänzung. Dabei bleiben allerdings durch die frühen Identifikationen und durch die Introjektion (Verinnerlichung) von Teilaspekten des anderen immer auch Anteile von ihm im eigenen Inneren erhalten, so, wie man selbst im anderen verkörpert wird. Man spricht hierbei von »inneren Bildern« oder »Objektrepräsentanzen«, die neben den »Selbstrepräsentanzen« in entscheidender Weise das eigene Selbst zu stabilisieren vermögen.
Geschwister bilden also nicht nur eine Einheit, wie wir früher gesehen haben; sie bilden auch Gegensätze, die sich in der Geschwisterliebe ergänzen. Dabei tragen sie jedoch auch weiterhin Teile des anderen mit sich, der Junge zum Beispiel die weiblichen Anteile seiner Schwester und das Mädchen die männlichen ihres Bruders. Ihre positive Bindung hat nur dann Bestand, wenn es beiden gelungen ist, den andern als gutes inneres Objekt in sich aufzunehmen, zu verinnerlichen oder, weniger fachlich ausgedrückt, in sich zu beherbergen.
In den theoretischen Rahmen gehört noch die Frage, wie sich Unterschiede beziehungsweise Ähnlichkeiten in der Konstitution auf die Geschwisterbeziehung auswirken. Es ist heute unstrittig, dass angeborene Faktoren das Temperament und die Vitalität eines Kindes wesentlich mitbestimmen. Das bezieht sich besonders auf die motorische Aktivität und auf die allgemeine Sensibilität, mit der das Kind auf Außenreize reagiert und diese verarbeitet. Es gibt von Geburt an motorisch sehr wilde Kinder und sehr ruhige Kinder, es gibt besonders reizempfindliche und reizunempfindliche Kinder. Entsprechend verschieden sind ihr Verhalten und ihre Kommunikation. Die Ähnlichkeit im Temperament zwischen Mutter und Kind zum Beispiel gilt als günstige Bedingung für eine konfliktfreie Beziehung.Bei Geschwistern scheint mir die Frage schwerer zu beantworten, weil viel mehr andere Faktoren in die Geschwisterbindung einfließen als in eine Mutter-Kind-Beziehung. Eine hohe Übereinstimmung im Temperament der Geschwister hat sicher weniger Konflikte, aber auch eine geringere gegenseitige Anregung zur Folge. Gegensätze wirken hier wohl eher anziehend, weil sie eine stärkere Herausforderung und Ergänzung von Verschiedenem bedeuten.
In der Regel dürfte der Ausgleich vorherrschen, der die sinnvolle Ergänzung von Unterschiedlichkeit und verschiedener Identität mit den vielen Gemeinsamkeiten herstellt, wodurch die Geschwisterliebe zu einem Ganzen wird. Sich dieser Ganzheit bewusst zu sein und sie als Bereicherung zu erleben setzt jedoch die Bereitschaft zur Toleranz und Verständigung voraus. Denn wenn man Geschwisterschicksale in Märchen, Mythen und in der belletristischen Literatur verfolgt, herrscht dort sehr häufig eine Spaltung vor, die die Guten und die Bösen klar voneinander scheidet. Solche Spaltungsvorgänge gehören in das Arsenal der Abwehrmechanismen, mit denen sich die Auseinandersetzung mit Konflikten leichter umgehen lässt. Einen solchen Mangel an Konfliktfähigkeit und Differenzierung findet man häufig in großen Geschwisterreihen, in denen es dann folgerichtig zu Parteibildungen kommt. Dabei findet in jeder der Gruppierungen eine enge Kohäsion ihrer Mitglieder und eine hermetische Ausgrenzung der
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