Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
ganz auf die abstrakte Essenz fixierte Blick. Es ist die kalte Ästhetik einer vom Menschen befreiten, wie Horstmann sich ausdrückt, »anthropofugalen« Welt, die den Melancholiker fasziniert, eine Sehnsucht nach Reinheit und Vollkommenheit, wie sie auch die ekstatischen und weltflüchtigen Säulenheiligen und frommen Einsiedler treibt: die Unfähigkeit, sich mit der Endlichkeit und Weltgebundenheit des Menschen abzufinden und ein Leben zu lieben, das den extravaganten Ansprüchen der Wissens- und Empfindungselite nicht genügen mag, das aber, wenn man ihm mit offenen Sinnen begegnet, seine unleugbaren Glücksmomente aufweist.
»Alle Menschen sind entweder (...) Menschen mit asketischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen Trieben oder Menschen mit lebensheiterem, entfaltungsstolzem und realistischem Wesen«, schreibt Heinrich Heine in Ludwig Börne –
Eine Denkschrift. 96 Die Ersteren, zu denen er auch Börne rechnet, nennt er Nazarener oder einfach Juden oder Christen, die Letzteren Griechen. Nun mag man zweifeln, ob die Heine’schen Benennungen glücklich gewählt sind, aber die Typisierung, die hier vorgenommen wird, ist heuristisch durchaus fruchtbar. Denn in der Tat lassen sich quer durch die Geschichte des Denkens diese beiden Denkstile verfolgen, der heitere, lebenszugewandte und der grüblerische, weltflüchtige.
Es gibt zwei Bilder, die die hier angesprochene Differenz schlagartig deutlich machen: Albrecht Dürers Stich Hieronymus im Gehäus und die uns erhaltenen Beschreibungen des Epikur in seinem Garten. Hieronymus im Gehäus, abgeschirmt gegen die Welt, konzentriert auf sich selbst und die Heilige Schrift, in der er liest, Löwe und Lamm einträchtig nebeneinander; ein Totenschädel im Blickfeld des Kirchenvaters gemahnt ihn an das jederzeit mögliche Ende seines irdischen Lebens. Dagegen Epikur im heiteren philosophischen Gespräch mit Freunden durch den sonnendurchfluteten Garten schreitend; vielleicht pflückt er hier eine Traube, dort eine Feige, um sie im Gehen zu verspeisen; Frauen sind unter seinen Begleitern, Kinder tummeln sich im Schatten einer Pinie. Beide Bilder strahlen Frieden aus. Und doch ist die Atmosphäre in beiden grundverschieden: eremitische Weltabgewandtheit im einen, gesellige Weltlust im anderen.
Dass es sich auch bei dem geselligen und sinnenfreudigen Denkstil um eine legitime Form von Vernunft, Humanität und Geistigkeit handelt, wird bis heute von vielen nicht verstanden. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass Christoph Martin Wieland, dieser menschenfreundliche Aufklärer, der Demokrit und Diogenes von Sinope zu seinen Hausheiligen erwählte, heute weitgehend vergessen ist. Denken
gilt zumeist immer noch als eine tiefernste Angelegenheit, bei der es nichts zu lachen gibt. Ein essayistischer Stil, die freudigen Luftsprünge eines Denkens auf eigene Faust, die humoristische Wendung einer These in ihr Gegenteil, der schmunzelnde Verzicht auf letzte Konsequenz, die Freude am Wortspiel und an der Aporie, der lustbetonte Tanz über die Abgründe unserer problematischen Existenz – das alles gilt, vor allem in akademischen Kreisen, auch heute noch oft als unseriös.
Aber das unseriöse Denken kann durchaus erhellend sein. Niemand hat das überzeugender vorgeführt als Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der Autor des Abenteuerlichen Simplicissimus Teutsch , der sich unter anagrammatisch verschlüsselten Pseudonymen wie German Schleifheim von Sulsfort oder Samuel Greifnson vom Hirschfeld versteckte und mit seinem Sprachwitz und seiner »Poetik der Verkehrung« 97 wie kein anderer Autor seiner Zeit auf die erkenntnisfördernde Wirkung des Lachens setzte. Wer Heinrich Heines Abhandlung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland liest, wird darin denselben satirisch-kritischen Geist entdecken. Mit welcher unbekümmerten Frechheit und Treffsicherheit hat Heine zum Beispiel den finsteren Robespierre, den manche seiner Anhänger gern mit Kant verglichen, als radikalisierten Spießbürger entlarvt! »Man erzeigt wirklich dem Maximilian Robespierre zu viel Ehre, wenn man ihn mit dem Immanuel Kant vergleicht. Maximilian Robespierre, der große Spießbürger von der Rue St. Honoré, bekam freilich seine Anfälle von Zerstörungswut, wenn es das Königtum galt, und er zuckte dann furchtbar genug in seiner regiziden Epilepsie; aber sobald vom höchsten Wesen die Rede war, wusch er sich den weißen Schaum wieder vom Munde und das Blut
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