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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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gemeinsame Mahl, der Tanz auf Straßen und Plätzen unter den Verdacht der Sündhaftigkeit fällt, wie es in der puritanischen Ära geschah. Die Folgen waren damals dieselben, die heute durch die forcierte Individualisierung, durch Stress und überhöhte Mobilitätsanforderungen zu beobachten sind: Vereinzelung, Lebensunlust, Zunahme von Angst und von depressiven Erkrankungen, wachsende Neigung zur Dämonisierung von anderen und ein geradezu hysterisches Sicherheitsbedürfnis.
     
    Die soziale Dimension der Sicherheit berücksichtigen, das ist nach allem, was wir wissen, die beste Generalprävention. Zwar kann auch die Gemeinschaft, wenn sie sich von der übrigen Welt abkapselt und zur Fluchtburg wird, Angst und Aggression erzeugen. Auch kann sie uns nicht vor allen Gefahren beschützen  – und sie sollte auch gar nicht versuchen, das zu tun –, aber sie kann uns helfen, Unglück, Gefahren und Verluste, die in jedem Leben auftreten, besser zu bestehen und zu verarbeiten.
Die Mutter, die ihr Kind in den Arm nimmt und es an die Brust drückt, wenn ein Gewitter niedergeht, die Gemeinde, die sich in der Kirche zum gemeinsamen Gebet trifft, wenn ein terroristischer Anschlag die Seelen erschüttert hat, die Nachbarn, die sich in der Küche der Frau treffen, deren Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, die Bewohner einer Straße, die sich zu einem ausgelassenen Fest verabreden, obwohl in den Medien die Angst vor einer Epidemie geschürt wird – sie alle leisten womöglich mehr zur Bewältigung unserer Ängste, als alle ausgeklügelten Sicherheitssysteme.
     
    Nur wenn wir bereit und in der Lage sind, die Grundfakten der menschlichen Existenz, vor allem die Tatsache unserer eigenen Sterblichkeit und Verletzlichkeit, mit Gelassenheit zu akzeptieren, können wir hinsichtlich der anderen, der gesellschaftlichen Seite unseres Sicherheitsproblems Vernunft (im unverkürzten Sinn) walten lassen. Tun wir das nicht, lehnen wir uns gegen das Gattungsschicksal des auf Freiheit angelegten, sterblichen Menschen auf, geraten wir immer auswegloser auf die Bahn eines übersteigerten Sicherheitsstrebens. Wir unterwerfen uns mehr und mehr den Sachzwängen der zu unserer Sicherheit geschaffenen Apparate, verstricken uns am Ende in hoffnungsloseste Abhängigkeit, liefern uns Mächten aus, die wir weder zu durchschauen noch zu kontrollieren vermögen, obwohl sie von uns selbst geschaffen wurden – und werden umso häufiger von Ängsten heimgesucht, je eifriger wir versuchen, uns gegen alle denkbaren Gefahren abzusichern.
     
    Selbstsicherheit als gelassene Einsicht in die condition humaine ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir bei der Organisierung von Systemsicherheit (ich folge hier der Terminologie von Franz-Xaver Kaufmann) im menschlichen Rahmen bleiben. Nur sollten wir eines nicht aus dem Auge verlieren: Selbstsicherheit ist, ähnlich wie Geborgenheit, im strengen – organisatorisch-technischen – Sinn nicht
herstellbar. Auch wenn wir den Einsatz von Seelsorgern, Pädagogen, Therapeuten, Ideologen und Drogen verdoppeln und verdreifachen, werden wir nicht produzieren können, was allein in dafür günstigen sozialen Beziehungen wachsen kann. Eine Kultur und das in ihr sich herausbildende Lebensmuster und Selbstverständnis verändert man nicht, wie man ein technisches System verändert. Wir können allenfalls versuchen, die Hindernisse auszuräumen, die einer Entwicklung entgegenstehen, die Selbstsicherheit und Geborgenheit fördert.
     
    Das scheint erbärmlich wenig zu sein, läuft aber in der Konsequenz auf nicht weniger hinaus, als die tief greifende Veränderung der heute dominierenden Lebens- und Arbeitsweise. Die kulturellen Ressourcen, die wir dafür benötigen, stehen uns – auch hier in Europa – durchaus zur Verfügung, wir brauchen sie nicht aus fernöstlichen Kulturen zu importieren, obwohl eine Kenntnis dieser Kulturen auch in diesem Kontext nicht schaden kann. Die radikal individualistische ökonomistische Ideologie, die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von jenseits des Atlantiks kommend auch bei uns um sich gegriffen hat, ist eine Möglichkeit, aber keineswegs das zwangsläufige Ergebnis der europäischen Geistesgeschichte. Zahlreiche Zeugnisse einer differenzierteren Sicht der Welt, eines anderen Verständnisses vom Menschen, einer anderen Auffassung von einem erfüllten Leben sind in unserer Kultur vorhanden, alle diese Ideen sind nach wie vor in den Köpfen

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