Gesichter: Roman (German Edition)
Frau ihm den Ausdruck eines digitalen Fotos. Das Mädchen auf dem Bild war eindeutig Nele, aber er erschrak so, dass er sie erst auf den zweiten Blick erkannte. Neles Haar war weg, ihr Schädel stattdessen von wasserstoffblonden Stoppeln überzogen, doch was ihn am meisten entsetzte, war ihr Ausdruck. Ihre Proportionen hatten sich verschoben oder verzerrt, etwas, das ihre Züge vorher zusammengehalten und ausgemacht hatte, war nicht mehr da. Das Gesicht schien in die Breite gegangen, ihre Augen waren aufgerissen vor Schreck. Sie machte einen abwesenden, verwirrten Eindruck, als hätte sie monatelang vogelfrei auf der Straße gelebt. Es war Nele, aber sie hatte nichts mit seiner Tochter zu tun.
»Oh Gott«, sagte er und legte das Bild auf den Tisch.
Die Frau hatte sich bis jetzt perfekt unter Kontrolle gehabt, direkter Blickkontakt, keine unnötigen Bewegungen, doch nun änderte sie umständlich die Sitzhaltung: »Ihr muss etwas Schlimmes passiert sein. Ihre Tochter weist Anzeichen auf, die auf einen Missbrauch hindeuten.«
Für einen Moment saß er wie betäubt da, er dachte an den Mann, den der Pförtner mit Nele in der Klinik gesehen hatte, an den Jungen von der Insel und begriff erst mit Verspätung, was die Worte der Frau tatsächlich bedeuteten.
»In solchen Fällen gehen wir als Erstes davon aus, dass der Täter aus dem näheren Umfeld, aus der Familie kommt«, sagte die Frau und sah ihn direkt an. Gabor schaute zu Berit. Sie schwieg. Doch viel mehr als ihr Schweigen entsetzte ihn die Härte in ihrem Blick.
»Was?«, rief er. »Hat sie das gesagt? Hat Nele etwa behauptet, dass …«
»Sie spricht nicht, zumindest nicht über das, was ihr geschehen ist.«
»Das ist doch ein Witz. Ihr glaubt doch nicht …« Er lachte. »Berit, das kann doch nicht wahr sein!«
»Was ist passiert, als ihr bei den Kranichen wart, an dem Wochenende, bevor sie verschwunden ist?«, fragte seine Frau.
»Wie bitte?«
»Malte hat gesagt, dass er in der Nacht aufgewacht ist, weil Nele weinte. Du hast auf dem Bett gelegen und ihr Bein angefasst.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Und auf der Fähre? Damals, als du sie ins Bett gebracht hast, bevor du angeblich auf das Autodeck gegangen bist, um diesen Flüchtling zu suchen. Dein Telefon war ausgeschaltet. Du stellst dein Telefon sonst nie aus.«
»Ich bin auf das Autodeck gegangen«, sagte Gabor. »Ich bin aufs Autodeck gegangen«, wiederholte er, aber noch während er sprach, merkte er, dass sein Gestammel die Sache nur verschlimmerte. Ein furchtbares Dunkel tat sich auf, ein schwarzes Loch, das alle Gewissheiten verschlang und den letzten Rest von dem mitriss, was Berit und ihn noch verband.
»Sie können sich also nicht erklären, was Ihrer Tochter widerfahren sein könnte? Warum sie sich weigert, Sie zu sehen?«
»Nein, das kann ich nicht«, rief er aufgebracht.
Die Frau zupfte einen Faden von ihrem Rock.
»Gut. Dann werde ich Sie jetzt über unser weiteres Vorgehen aufklären. Ihre Tochter weiß, dass ich bei Ihnen bin, und ich hoffe, dass mein Besuch sie dazu veranlasst, zu reden. Die Mädchen können bei uns nur drei Wochen bleiben, in dieser Zeit machen wir uns ein Bild von der Situation und entscheiden, was weiter geschieht. Bei Ihrer Tochter hieße das: Wenn sie innerhalb der nächsten Tage nicht sagt, was ihr zugestoßen ist, wird sie entweder hierher zurückgebracht oder wir überweisen sie – wenn wir glauben, diesen Schritt nicht verantworten zu können – in eine Klinik oder in eine Einrichtung des Jugendamtes.«
Gabor starrte sie an. Er wusste, dass alles, was er jetzt sagte oder tat, auf ihn zurückfallen könnte. Ihm fiel ein, dass Berit nie an eine Entführung geglaubt und immer wieder von einer Abtreibung gesprochen hatte, auch dann noch, als selbst die Polizistin die Version für den letzten Erklärungsversuch einer verzweifelten Mutter hielt. Was ging um Himmels willen in ihrem Kopf vor? Als er ihren Blick suchte, schaute sie zu Boden.
»Ich muss Sie bitten, den Wunsch Ihrer Tochter zu akzeptieren«, sagte die Frau. »Bitte versuchen Sie nicht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und kommen Sie auch nicht zu uns. Das wäre alles andere als hilfreich.«
Während Berit die Frau zur Tür brachte, ging Gabor in sein Arbeitszimmer. Noch im Mantel, setzte er sich an den Schreibtisch und schlug die Hände vors Gesicht, doch als er das Geräusch der schließenden Haustür hörte, stand er auf und trat ans Fenster.
Die Frau eilte, ihre Handtasche fest
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