Gesichter: Roman (German Edition)
Sekunden sichtbar, verschwanden ganz oder tauchten drei oder vier Reihen später in anderer Konstellation wieder auf. Als Karsten Sieverth ihn entdeckte, streckte er sofort den Arm aus und rief: »Da ist er ja!« Alle lachten, einige applaudierten sogar, während Gabor in der Tür stand wie ein unbeteiligter Passant, der aus Neugier kurz stehen geblieben war und jetzt, nach einem freundlichen Nicken, den Gang weiter entlangging.
Gabor stand vor dem Krankenhaus und blickte sich um. Am medizinischen Buchladen blätterte eine Frau eine Kiste mit Büchern durch. Hinter dem Tresen der Bäckerei unterhielten sich zwei Verkäuferinnen. Der Ruhe nach zu urteilen, mit der ein Sanitäter die Hecktüren des Rettungswagens öffnete, handelte es sich nicht um einen Notfall. Weiter südlich, auf Höhe der Botschaft, war die Straße wegen des Besuchs eines Staatspräsidenten gesperrt, und als der Fahrer eines Geländewagens merkte, dass er nicht weiterkam, wendete er mit quietschenden Reifen und raste gen Norden davon. Eine übergewichtige Frau im Bademantel schleppte sich über den Zebrastreifen, ein Mobiltelefon am Ohr. Am Eingang des Supermarktes hatte der Obdachlose sein Lager noch nicht aufgeschlagen.
Gabor Lorenz ging in die Klinik zurück. Im Fahrstuhl war er allein. Die Kabine hielt auf der Etage mit den Labors und auf der Inneren, aber niemand stieg zu. Auf dem Gang grüßte ihn ein Patient mit rasierter Schädelhälfte. Als er sein Zimmer betrat, sah er die Regale mit den medizinischen Nachschlagewerken, die Stahlrohrstühle, die er vor Jahren auf einem Flohmarkt in Charlottenburg gekauft hatte, und die Topfpflanze auf dem Druckertisch. Er räumte die herumliegenden Stifte in die Schale, warf Altpapier und Werbebroschüren in den Papierkorb und stellte die leeren Wasserflaschen daneben. Als seine Arbeitsfläche aufgeräumt und leer war, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er nahm noch einmal die Postkarte zur Hand. Eine junge Frau, die auf der Dachterrasse eines schneeweißen Inselhauses bei starkem Wind Wäsche aufhängt. Die Karte hatte weder Briefmarke noch Stempel. Er hatte sie vorhin in seinem Postfach gefunden. Er betrachtete die angestoßenen Ecken, an denen das Papier schon aufquoll, die Ränder, stellte sich die unsichtbaren Fingerabdrücke auf der grauen, abgegriffenen Pappe vor. Er legte die Karte wieder auf den Tisch. Der Himmel war ohne Wolken, farblos.
Liste lieber Inselorte:
Ilias’ Rumpelcafé im letzten Perlendorf (vielleicht eher Neles)
Blick von der Kurve auf das türkise Wasser der Angeberbucht (während der Wind Staub über die Piste treibt)
Prekas (ohne Russen, ohne zweite griechische Liga)
Unser Zimmer im Morgengrauen, bevor Du aufwachst
G.
Dank
Ich danke Dr. Andreas Lüschow, der mir bereitwillig Auskunft zum Thema Gesichtsblindheit und Gesichtserkennung gab. Informationen dazu verdanke ich auch der Onlineausgabe der Dissertation Phänomenologie und Diagnostik der kongenitalen Prosopagnosie von Anne Lotta Elisabeth Klippel. Außerdem danke ich Markus Bahnemann, Peter Goetz, Kostas Kosmas, Andree Solvik, Charlotte Streck und Clemens Tissi.
Besonders danke ich Mirella Weingarten, für ihre Unterstützung und ihren erhellenden Blick.
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