Gestern fängt das Leben an
Satz «Ich komme gerade aus dem Jahr 2000» anzufangen.
«Zur Arbeit, Jillian, so wie jeden Morgen.» Henry sieht nicht mehr nur verwirrt, sondern tief besorgt aus. «Tyler holt mich doch immer ab, und wir nehmen den Zug. Aber ich glaube, heute fahre ich besser nicht. Warte kurz, ich sag ihm schnell Bescheid.»
«Nein, nein, geh!» Ich wedle hektisch mit der Hand. «Mir geht es gut, wirklich. Ich bin nur … kaputt. Alles in Ordnung.»
Er legt den Kopf schief. «Stimmt nicht.»
Ich atme tief ein und versuche, die Dinge zu ordnen. Katie. Tyler. Henry. Ich bin wieder da, aber trotzdem ist nichts so, wie es war. Irgendetwas hat sich definitiv verändert. Etwas,das sich gut anfühlt. Etwas, das sich entschieden nach Heimat anfühlt.
«Nein, wirklich», wiederhole ich und sehe ihn ernst an. «Ich brauche nur etwas Zeit für mich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.»
Es klingelt erneut, diesmal mit mehr Nachdruck, und ich spüre Henrys Zögern.
«Geh», sage ich bestimmt. «Geh! Wirklich, es ist kein Problem. Alles in Ordnung.» Und weil er die Aufrichtigkeit in meinem Tonfall hört, nickt er kurz.
Er küsst mich und verspricht, aus dem Büro anzurufen, sobald sich die Gelegenheit ergibt. «Ich versuche auch rechtzeitig zurück zu sein, um Katie ins Bett zu bringen», sagt er, ehe er zur Tür rausgeht.
Und auch wenn ich jetzt schon weiß, dass er es vielleicht nicht rechtzeitig schafft, weiß ich doch auch, dass es dann nicht gegen mich gerichtet ist.
Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen, schmecke den Orangensaft von Henrys Kuss und sehe ihm nach, wie er zu Tylers Auto geht. Der Wagen ist ein Minivan, den man sich nur kauft, weil vielfacher Nachwuchs es erforderlich macht.
Henry dreht sich kurz zu mir um, ehe er einsteigt. Ich hebe meine zitternde Hand und winke ihm hinterher, und er lächelt und winkt zurück. Dann drehe ich mich um und mache mich daran, die losen Fäden meines abgebrochenen Lebens aufzusammeln.
Katies Zimmer liegt im ehemaligen Gästezimmer hinter der Küche. Es riecht nach Bananenbrot. Ich lasse mich in den Schaukelstuhl sinken, in dem ich sie so häufig gestillt und in den Schlaf gesungen habe.
Ich wippe vor und zurück. Vor und zurück. Und langsam, ganz langsam fallen mir die Augen zu, während ein Gefühl der Sicherheit mich umfängt wie eine warme Decke.
Mit geschlossenen Augen schaukle ich mich in den Schlaf, gleite in friedvollen Schlummer. Ich erinnere mich an das Glück vergangener Tage und fühle eine gespannte Erwartung an die Zeit, die jetzt vor mir liegt. Weil ich weiß, dass Henry in die Stadt fährt, um dort zu arbeiten. So wie immer schon. Und dass Katie bei meiner Mutter in guten Händen ist.
Aber diesmal erwartet beide, wenn sie heute zu mir zurückkehren, eine ganz neue Version von mir. Hier und jetzt. Später und damals. Für immer und alle Tage.
JILLIAN
Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Alles sprach dafür, aber ich bin noch nie besonders gut darin gewesen, Vorzeichen zu deuten.
Henry war mit Katie zum Brötchenholen gegangen. Ich wollte in der Zwischenzeit Laufen gehen, merkte aber, dass etwas nicht stimmte. Mir wurde plötzlich übel, und ich rannte hoch ins Bad.
Das Haus war ansonsten vollkommen still, wenn auch nicht halb so ordentlich, wie ich es gerne gehabt hätte: Unter dem Sofa lugten Henrys Socken hervor, die Seiten der Morgenzeitung waren kreuz und quer über den Wohnzimmerteppich verteilt, und auf dem Couchtisch lag immer noch der angefangene Lutscher, den Katie gestern Abend zum Nachtisch bekommen hatte. (Ich weiß, was die Zeitschriften sagen: Zucker zerstört die Zähne
des Kindes von innen heraus …) Jedenfalls verkniff ich es mir, aufzuräumen oder zu putzen. Früher hätte ich sofort losgeschrubbt, stattdessen konzentrierte ich mich jetzt auf meine eigentlichen Pläne. Denn so lebte ich mein Leben mittlerweile: Ich wusste, ich würde mein inneres Gleichgewicht nie ganz finden, nie ganz ins Reine kom
men
mit meinen häuslichen Zwängen. Dennoch konnte ich mir diese Schwächen eingestehen und nach vorne blicken. (Meistens jedenfalls.) Natürlich hatte ich ab und zu noch einen Rückfall, aber ich bekam mich stets wieder in den Griff. Denn mir war klargeworden, wie reich mein Leben eigentlich war. Und ich war glücklich, es leben zu dürfen.
Außerdem wusste ich ja nicht, wie leicht es mir wieder genommen werden konnte. Garland und mein blockiertes Qi hin oder her.
Als ich an jenem Morgen, wenige Wochen nach
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