Gestern fängt das Leben an
Liege. Genau wie damals drücke ich das Gesicht in den Kissenring und streiche mir die Haare aus dem Nacken. Ich höre Garland tief ein- und ausatmen und versuche, das Gleiche zu tun. Seine Hände fahren über meinen Kopf. Und obwohl sich jede einzelne Zelle meines Körpers danach sehnt, sich zu entspannen, fühle ich mich wie ein Käsesoufflé, das jeden Moment explodiert. Mein ganzer Körper ist aufgeladen mit Verzweiflung und Angst.
Ich versuche, an Katie zu denken. An ihr Gesicht, ihre Luftküsse und ihre ruhigen Atemzüge, wenn sie abends einschlummert. Vielleicht beruhigt mich das. Ich denke an Henry und daran, was wir beide falsch gemacht haben. Wie wir uns beide verbogen haben, um den Erwartungen des anderen gerecht zu werden. Ich denke an meine Mutter, die glaubt, sie habe sich zu sehr verbogen. Und an meinen Vater, der verstanden hat, dass er ihr eine bessere Stütze hätte sein können.
Ich spüre, wie Garlands Hände sich tiefer in mein Fleisch graben, als würden sie meinen Schmerz herauskneten. Und mit dem Schmerz vielleicht auch meine Vergangenheit.
Er beugt sich tief zu mir herunter, ich spüre seinen Atem in meinem Nacken, und dann sagt er, genau wie vor einer Ewigkeit: «Ihr Qi ist blockiert. Ich versuche jetzt, die Blockade zu lösen. Sie werden einen etwas unangenehmen Druck spüren.»
Plötzlich rammt er mir die Ellbogen unter die Schulterblätter, und in mir explodiert ein Feuerwerk. Rote Kreise zucken vor meinen Augen. Ich ergebe mich dem Schmerz, beiße mir auf die Lippe und denke an Katie und an Henry.
Was wäre, wenn ich Henry nicht geheiratet hätte? ,
denke ich.
Was, wenn Katie nie geboren worden wäre?
Während Garlands Finger mich befreien, sehe ich all diese Fragen auf einmal aus einer völlig neuen Perspektive: Es ist nicht mehr der Blickwinkel versäumter Gelegenheiten mit Jack und einem anderen Leben, sondern der Blickwinkel der versäumten Gelegenheit dieses Lebens,
meines
Lebens. Des Lebens, das ich von Anfang an hätte wählen sollen.
Dann wird die Welt um mich herum schwarz.
30
Das Bettlaken fühlt sich fremd an, so wie neugekaufte Bettwäsche, die erst gewaschen werden muss, damit sie weich wird. Das Kopfkissen ist schweißnass. Meine Mundwinkel sind verkrustet, und meine Kehle ist trocken und rau. Die Schläfen pochen so heftig, dass der Puls mir in den Ohren dröhnt.
Ich rolle mich zur Seite, blinzele mit den Augen und richte mich vorsichtig auf. Mit einer Hand schiebe ich mir die verschwitzten Haare aus dem Gesicht, um mich umzusehen.
Das Zimmer ist mir irgendwie fremd, aber gleichzeitig ruft es in mir eine ferne Erinnerung wach. Die üppigen, schweren Seidenvolants wurden ersetzt durch einfache, dunkle Holzrollos. Auch die aufwendigen, modernen Läufer sind weg, die ich damals unbedingt haben wollte, weil ich sie in einer Zeitschrift für Inneneinrichtung gesehen hatte. Stattdessen liegt jetzt ein schlichter, heller Teppich auf dem Boden. In einer Ecke entdecke ich einen Haufen Schmutzwäsche, der förmlich danach schreit, gewaschen, getrocknet und gebügelt zu werden. Dann meine ich eine Kinderstimme zu vernehmen.
Katie!
Mit einem Ruck springe ich aus dem Bett, renne aus dem Zimmer, den Flur entlang und ins Kinderzimmer. Aber es ist kein Kinderzimmer mehr: Stattdessen stehe ich in einem chaotischen Büro mit einem Schreibtisch, der unterMassen von Papier und Unterlagen fast zusammenbricht. In der Ecke steht ein Laufband, das offensichtlich eher als Kleiderständer dient.
Ich trete zum Schreibtisch und wühle mit fliegenden Händen in dem Durcheinander herum. Das Briefpapier trägt einen Briefkopf mit meinem Namen und dem von Josie (ihrem Mädchennamen!); desgleichen Visitenkarten; Empfehlungsschreiben an mir unbekannte Kunden; ein Foto von Megan mit einem Kind, das ich noch nie gesehen habe. Wie wild schüttele ich den Kopf.
Nichts von alldem ergibt irgendeinen Sinn
, denke ich.
Wo ist Katie? WO UM HIMMELS WILLEN IST SIE!?!
Verzweifelt rase ich in die Küche. Als ich durch die Tür komme, kreische ich vor Schreck laut auf.
«Herrgott nochmal!», schreie ich. «Du hättest mich fast zu Tode erschreckt!» Im nächsten Augenblick schlage ich mir die Hände vor die Brust.
Henry steht am Kühlschrank und trinkt Orangensaft direkt aus der Packung. Er sieht aus, als würde er gleich ins Büro gehen. Erschrocken dreht er sich zu mir um und versucht, den Saft so schnell wie möglich wieder zurückzustellen. Wie ein Schuljunge, der von seiner Mutter gerade mit
Weitere Kostenlose Bücher