Gewalt
1914
] von Barbara Tuchman gelesen, eine Geschichte des Ersten Weltkrieges; er wusste, dass eine internationale Mutprobe, hinter der »persönliche Minderwertigkeitskomplexe und Größenwahn« standen, zur Katastrophe führen konnte. In seinen Erinnerungen an die Krise berichtet Robert Kennedy:
Keine der beiden Seiten wollte einen Krieg um Kuba, aber doch konnte es sein, dass hüben und drüben ein Schritt unternommen wurde, der – aus Gründen der »Sicherheit« oder der »Selbstachtung« oder »um das Gesicht zu wahren« – die andere Seite zu einer Erwiderung veranlasste, die dann aus denselben Gründen eine Gegenreaktion auslöste und schließlich zu einer Eskalation bis zum kriegerischen Konflikt führte. Diese Entwicklung wollte Präsident Kennedy verhindern. [663]
Chruschtschows witzige Bemerkung über den zaristischen Offizier zeigt, dass auch er über die Psychologie der Ehre Bescheid wusste und ein ähnlich intuitives Gespür für die Spieltheorie hatte. In einem angespannten Augenblick während der Krise bot er Kennedy folgende Analyse an:
Sie und ich sollten nicht an den Enden des Seils ziehen, in das wir den Knoten des Krieges geknüpft haben, denn je fester Sie und ich ziehen, desto fester wird der Knoten werden. Es könnte die Zeit kommen, in der dieser Knoten so fest ist, dass diejenigen, die ihn geknüpft haben, ihn nicht mehr lösen können, und dann muss der Knoten durchgeschnitten werden. [664]
Sie lösten den Knoten, indem sie gegenseitig Zugeständnisse machten: Chruschtschow zog seine Raketen von Kuba ab, Kennedy die seinen aus der Türkei; außerdem versprach Kennedy, nicht in Kuba einzumarschieren. Die Deeskalation war aber nicht nur ein geradezu gespenstischer Glücksfall. Mueller verschaffte sich einen Überblick über die Geschichte der Konfrontationen zwischen den Supermächten während des Kalten Krieges und gelangte zu dem Schluss, dass die Abfolge eher dem Erklettern einer Leiter als der Fahrt auf einer Rolltreppe ähnelte. Die Machthaber begannen zwar mehrere Male mit dem gefährlichen Aufstieg, aber mit jeder Sprosse, die sie erklommen, nahm ihre Höhenangst zu, und jedes Mal suchten sie einen Weg, um vorsichtig wieder abzusteigen. [665]
Und trotz aller schuheklopfenden Großmannssucht der Sowjetunion während des Kalten Krieges ersparte ihre Führung der Welt eine neue Katastrophe, als Michail Gorbatschow zuließ, dass der Ostblock und schließlich die Sowjetunion selbst von der Landkarte verschwand – was der Historiker Timothy Garton Ash als »atemberaubenden Verzicht auf Gewalt« und »leuchtendes Beispiel für die Bedeutung des Einzelnen in der Geschichte« bezeichnete.
Diese letzte Bemerkung erinnert uns daran, dass historische Zufälligkeiten in beiden Richtungen funktionieren. Es gibt Paralleluniversen, in denen der Fahrer des Erzherzogs in Sarajevo nicht falsch abbog oder in denen ein Polizist beim Bürgerbräu-Putsch anders zielte, so dass die Geschichte mit einem oder zwei Weltkriegen weniger ablief. In anderen Paralleluniversen hörte ein amerikanischer Präsident auf seine versammelten Oberbefehlshaber und marschierte in Kuba ein, oder ein sowjetischer Staatschef reagierte auf die Öffnung der Berliner Mauer mit der Anforderung von Panzern, und die Geschichte lief mit einem oder zwei Kriegen mehr ab. Aber angesichts der wechselnden, von den jeweils herrschenden Gedanken oder Normen vorgegebenen Wahrscheinlichkeiten ist es nicht verwunderlich, dass die erste Hälfte des 20 . Jahrhunderts in unserem Universum von einem Prinzip und einem Hitler geprägt wurde, die zweite aber von einem Kennedy, einem Chruschtschow und einem Gorbatschow.
Eine andere historische Umwälzung in der Wertelandschaft des 20 . Jahrhunderts war der Widerstand der Bevölkerung in demokratischen Staaten gegen die Kriegspläne ihrer Politiker. Ende der 1950 er und Anfang der 1960 er Jahre gab es große Demonstrationen für die Abschaffung der Bombe. Zu ihrem Erbe gehört unter anderem das Friedenssymbol mit dem Dreizack im Kreis, das von anderen Friedensbewegungen übernommen wurde. Ende der 1960 er Jahre wurden die Vereinigten Staaten von Protesten gegen den Vietnamkrieg zerrissen. Kriegsfeindliche Überzeugungen waren nicht mehr auf sentimentale alte Tanten und Onkel beschränkt, und die Idealisten, die mit Sandalen und Bart marschierten, waren keine Sonderlinge mehr, sondern ein beträchtlicher Anteil der Generation, die in den 1960 er Jahren erwachsen wurde. Anders als die
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