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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.
    Artikel  3
: Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
     
    Man ist leicht versucht, diese Erklärung als Geklingel schöner Worte abzutun. Aber indem die Unterzeichner das Ideal der Aufklärung bekräftigten, dass der einzelne Mensch im politischen Bereich der höchste Wert ist, wiesen sie eine Doktrin zurück, die über mehr als ein Jahrhundert hinweg geherrscht hatte: dass der höchste Wert in der Nation, dem Volk, der Kultur, der Klasse oder einer anderen Gruppe liegt (ganz zu schweigen von der Doktrin früherer Jahrhunderte, wonach der Monarch den höchsten Wert darstellte und das Volk sein bewegliches Gut war). Die Notwendigkeit, eine solche allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu formulieren, war in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen von 1945 / 46 deutlich geworden: Dort hatten einige Anwälte argumentiert, man könne die Nazis nur für den Teil des Völkermordes verantwortlich machen, den sie in besetzten Staaten wie Polen begangen hatten. Was sie auf ihrem eigenen Territorium taten, so eine frühere Denkweise, ging keinen anderen etwas an.
    Dass die Erklärung nicht nur heiße Luft war, zeigte sich auch daran, dass die Großmächte zögerten, sie zu unterzeichnen. In Großbritannien machte man sich Sorgen um die Kolonien, in den Vereinigten Staaten um die Neger und in der Sowjetunion um die Marionettenstaaten. [653] Aber nachdem Eleanor Roosevelt die Erklärung durch 83 Sitzungen manövriert hatte, wurde sie ohne Gegenstimmen angenommen (wobei es allerdings aufschlussreicherweise acht Enthaltungen aus dem sowjetischen Block gab).
    Wie stark die Ideologie der Gegenaufklärung zu jener Zeit abgelehnt wurde, wurde 45  Jahre später von Václav Havel deutlich gemacht, dem Dramatiker, der in der Tschechoslowakei nach der gewaltlosen Samtrevolution und dem Sturz der kommunistischen Regierung zum Präsidenten gewählt wurde. Er schrieb: »Die Größe der Idee von der europäischen Einigung auf demokratischer Grundlage liegt darin, dass sie den alten Herder’schen Gedanken vom Nationalstaat als höchster Ausdrucksform des nationalen Lebens überwinden kann.« [654]
    Ein paradoxer Beitrag zum Langen Frieden war das Einfrieren der Staatsgrenzen. Die Vereinten Nationen setzten eine Norm in Kraft, wonach die vorhandenen Staaten und ihre Grenzen unverletzlich sind. Damit wurde jeder Versuch, sie mit Gewalt zu verändern, als »Aggression« gebrandmarkt, und durch dieses neue Verständnis war die territoriale Expansion als legitime Maßnahme im Spiel der internationalen Beziehungen vom Tisch. Die Grenzen mochten manchmal kaum einen Sinn haben, und die in ihnen herrschenden Regierungen hatten die Regierungsmacht vielleicht nicht verdient, aber die Grenzen mit Gewalt rationaler zu gestalten war in den Köpfen der Politiker keine realistische Möglichkeit mehr. Die Festschreibung der Grenzen war im Ganzen eine Entwicklung, die dem Frieden diente; der Politikwissenschaftler John Vasquez stellte fest: »Von allen Themen, über die man im Krieg logischerweise streiten kann, gehören territoriale Fragen zu denen, die am häufigsten zu Konflikten führen. Nur die wenigsten Kriege werden zwischen Staaten geführt, ohne dass es in der einen oder anderen Weise um Territorien geht.« [655]
    Der Politikwissenschaftler Mark Zacher hat den Wandel quantitativ erfasst. [656] Seit 1951 gab es nur zehn Invasionen, die zu größeren Verschiebungen von Staatsgrenzen führten, und alle zehn fanden vor 1975 statt. In vielen Fällen wurden Fahnen in dünn besiedelten Gebieten oder auf Inseln gehisst, und in einigen Fällen wurde damit nicht das Territorium des Eroberers vergrößert, sondern es entstanden neue politische Gebilde wie zum Beispiel Bangladesch. Zehn mag sich nach einer hohen Zahl anhören, aber wie man in Abbildung  5 - 21 erkennt, entspricht sie im Vergleich zu den vorangegangenen drei Jahrhunderten einem steilen Abfall.
    Abbildung  5 – 21 :
    Prozentsatz von Territorialkriegen, die mit der Neuverteilung von Territorien enden, von 1651 bis 2000
    Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist Israel. Die gewundene

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