Gewalt
»grüne Grenze«, an der die israelischen und arabischen Armeen 1949 zum Stehen kamen, war zu jener Zeit eigentlich für niemanden akzeptabel, am allerwenigsten für die arabischen Staaten. Dennoch erlangte sie in den nachfolgenden Jahrzehnten eine fast mystische Stellung als Israels einzig richtige Grenze. Das Land beugte sich dem internationalen Druck und gab einen großen Teil der Territorien, die es seitdem in verschiedenen Kriegen erobert hatte, wieder frei; noch zu unseren Lebzeiten wird es sich vermutlich auch aus den übrigen Gebieten zurückziehen, möglicherweise durch Tausch von Land und vielleicht mit einem komplizierten Arrangement für Jerusalem, wo die Norm unbeweglicher Grenzen mit derjenigen ungeteilter Städte zusammenstößt. Auch die meisten anderen Eroberungen, so der indonesische Einmarsch in Osttimor, wurden rückgängig gemacht. Das dramatischste Ereignis der jüngeren Zeit spielte sich 1990 ab: Saddam Hussein marschierte in Kuwait ein (das einzige Mal seit 1945 , dass ein UN -Mitglied ein anderes völlig schluckte), und eine fassungslose Koalition aus mehreren Staaten warf ihn kurzerhand wieder hinaus.
Als psychologische Motive stehen hinter der Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen nicht so sehr Mitgefühl oder moralische Überlegungen, sondern vielmehr Normen und Tabus (ein Thema, mit dem wir uns in Kapitel 9 genauer beschäftigen werden). Unter seriösen Staaten ist Eroberung keine denkbare Möglichkeit mehr. Ein Politiker, der in einer heutigen Demokratie den Vorschlag machen würde, ein anderes Land zu erobern, würde nicht auf Gegenargumente stoßen, sondern auf Verblüffung, peinlich berührte Reaktionen oder Gelächter.
Wie Zacher betont, hat die Norm der territorialen Integrität nicht nur Eroberungen unmöglich gemacht, sondern auch andere Formen der Grenzmanipulation. Während der Auflösung der Kolonien waren die Grenzen der neuen, unabhängigen Staaten identisch mit den Linien, die Kolonialverwaltungen Jahrzehnte zuvor auf die Landkarten gezeichnet hatten; häufig durchschnitten sie die Heimat ethnischer Gruppen, oder verfeindete Stämme wurden in einem Staat zusammengewürfelt. Dennoch gab es keine Bestrebungen, alle neuen politisch Verantwortlichen an einen Tisch zu bringen, damit sie auf einer leeren Landkarte die Grenzen von Grund auf neu zeichneten. Auch der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens führte dazu, dass die gestrichelten Linien zwischen den Teilrepubliken und Provinzen ohne jegliche Korrektur zu durchgezogenen Linien zwischen souveränen Staaten wurden.
Eine solche Überhöhung willkürlich gezogener Linien auf einer Landkarte mag unlogisch erscheinen, hinter der Beachtung von Normen steht aber selbst dann, wenn sie willkürlich und nicht zu rechtfertigen sind, eine vernünftige Überlegung. Eine wichtige Beobachtung machte der Spieltheoretiker Thomas Schelling: Wenn zwischen zwei Verhandlungsparteien mehrere Kompromisse möglich sind, mit denen beide besser fahren, als wenn sie die Verhandlung aufgeben, kann jedes auffällige kognitive Merkmal sie zu einem Abkommen verleiten, das beiden nützt. [657] Wenn Menschen beispielsweise um einen Preis verhandeln, können sie »sich in der Mitte treffen«, indem sie den Unterschied zwischen ihren Angeboten durch 2 teilen oder indem sie sich auf eine runde Zahl einigen, statt unendlich lange über den gerechtesten Preis zu streiten. Die Walfänger in Melvilles
Moby Dick
unterwerfen sich der Norm, dass ein fester Fisch demjenigen gehört, der daran festgekommen ist, denn sie wissen, dass sie nur so »fortwährenden Streit und Raufereien« vermeiden können. Anwälte erklären uns, dass Besitz neun Zehntel des Gesetzes ist, und wie jeder weiß, macht ein guter Zaun gute Nachbarn.
Der Respekt für die Norm der territorialen Integrität gewährleistet, dass Diskussionen, wie europäische Machthaber sie in den 1930 er Jahren mit Hitler führten, heute nicht mehr denkbar wären. Damals galt es als völlig vernünftig, dass der deutsche Diktator Österreich und Teile der Tschechoslowakei annektierte, damit die Grenzen Deutschlands mit den Siedlungsgebieten der deutschen Ethnie übereinstimmten. Die Norm hat sogar das Ideal des Nationalstaates und das damit verbundene Prinzip der Selbstbestimmung der Völker untergraben, von denen politisch Verantwortliche Ende des 19 . und Anfang des 20 . Jahrhunderts besessen waren. Eine glatte Grenze durch die Fraktale der einander durchdringenden ethnischen Gruppen zu ziehen, ist eine
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