Gewitterstille - Kriminalroman
erbracht, obwohl man zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung nachgegangen war.
Georg bugsierte Anna sanft zum Sofa und wickelte ihr eine Decke um die Beine, weil sie fror, obwohl es draußen selbst jetzt am Abend noch über zwanzig Grad warm war. Anna griff dankbar nach dem Glas Weißwein, das Georg ihr reichte, und trank einen kräftigen Schluck daraus. Georg nahm Anna das Glas wieder aus der Hand, stellte es auf dem Wohnzimmertisch vor ihr ab und setzte sich neben sie. Sie wehrte sich nicht, als er seinen Arm um sie legte, sondern schmiegte ihren Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Seine Nähe spendete ihr Trost. Nachdem ihr Telefonat mit Kommissar Braun beendet gewesen war, hatte ihr erster Gedanke Georg gegolten. Noch immer war er es, der ihr in Krisensituationen sofort in den Sinn kam. Ohne das geringste Zögern hatte er sein Meeting in Berlin abgebrochen und sich auf den Weg zu Anna gemacht. Sie saßen eine ganze Weile beieinander, ohne etwas zu sagen.
»Ich bin froh, dass du mich angerufen hast«, sagte Georg schließlich, als habe er ihre Gedanken gelesen, und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar.
»Du warst immer mein bester Freund.« Anna löste sich aus seiner Umarmung, deren Intimität sie plötzlich als unangenehm empfand.
»Weiß Sabine, dass du hier bist?«
»Du hast wirklich ein Gespür für Timing.« Georg ließ seinen Kopf nach hinten auf das Sofakissen fallen. »Was soll diese Frage überhaupt? Du weißt doch, dass wir uns endgültig getrennt haben.«
»Die Kinder leiden noch immer sehr darunter, richtig?«
»Natürlich leiden sie«, antwortete Georg, dem anzumerken war, dass er dieses Thema lieber vermieden hätte. »Aber seit ich ausgezogen bin, funktioniert es besser als vorher. Hör auf, dir Sorgen zu machen, dass du angeblich unsere Ehe zerstört hast.« Georg fasste Anna bei den Schultern, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. »Zum x-ten Mal, damit hast weder du noch sonst jemand etwas zu tun. Das, was zwischen uns passiert ist, ist passiert, Anna. Du kannst nicht die Zeit zurückdrehen. Wir werden nie wieder nur die guten Freunde sein, die wir einmal waren.« Anna wusste, dass Georg recht hatte. Sie waren beide in den vergangenen zwei Jahren durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen, und Anna war klar, dass sie sich selbst belog, wenn sie sich vorzumachen versuchte, die glücklichste alleinerziehende Mutter der Welt zu sein.
»Was immer passiert ist – ohne die Sache mit uns beiden wäre Emily nicht auf der Welt.«
»Ich weiß.« Anna rang sich ein Lächeln ab. Sie sah in Georgs tiefgründige dunkle Augen, und ihr wurde klar, dass er ganz unabhängig von der Nacht, in der Emily gezeugt wurde, schon lange nicht mehr nur ein guter Freund für sie hatte sein wollen. Sie fragte sich, was er wohl emp funden hatte, als sie noch mit Tom zusammen gewesen war. Durch Georg hatte sie ihren Exmann kennengelernt. Georg hatte damals seine Karriere als Immobilienkaufmann gerade erst begonnen. Er war noch Student, und Tom war ein junger Architekt gewesen, der in eines von Georgs ersten Bauprojekten eingebunden gewesen war. Georg lebte zu jener Zeit in einer riesigen Altbauwohnung, und als Anna während ihres Studiums vorübergehend eine Bleibe brauchte, war sie für einige Zeit bei ihm eingezogen. Eines Tages hatte Tom vor der Tür gestanden. Sie erinnerte sich an jedes Detail ihrer ersten Begegnung, wenn diese mittlerweile auch schon zehn Jahre zurücklag. Tom war eigentlich mit Georg verabredet gewesen, der sich aber verspätet hatte, weshalb Tom zunächst nur Anna ange troffen hatte. Sie selbst hatte damals gerade mitten in ihrer Examenshausarbeit gesteckt und war wenig begeistert gewesen, als Georg sie anrief und bat, für eine halbe Stunde die Gesellschafterin zu spielen, weil er irgendwo im Stau stand. Die ganze Nacht zuvor hatte sie am PC gesessen und gearbeitet, und entsprechend hatte Georg sie gegen elf Uhr mittags mit seinem Anruf aus dem Tiefschlaf geholt. Sie hatte kaum die Zeit gefunden, sich eine Jeans und ein ungebügeltes Top überzustreifen, als es auch schon geklingelt und sie ungeschminkt mit wirren Locken und einer Brille auf der Nase vor ihm gestanden hatte. Noch Sekunden bevor sie ihn das erste Mal sah, hatte sie ausschließlich ihre Hausarbeit im Kopf gehabt. Selbst ein George Clooney hätte sie kaltgelassen. Es war aber kein x-beliebiger Filmstar, sondern Tom, der plötzlich vor ihr gestanden und »Hallo« gesagt hatte. Schon in diesem Moment war ihr klar
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