Gewitterstille - Kriminalroman
über die Burgtorbrücke bis in den an die Altstadt grenzenden Stadtpark, dessen nackte Bäume geisterhaft und kalt über ihr emporragten. Erst hier wurde sie langsamer und folgte ziellos den Schlängelwegen. Es war inzwischen fast Mittag, und die Sonne war hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden. Der Weihnachtszauber des Vormittags war der Nüchternheit der Realität gewichen. Mit einem tiefen Gefühl der Einsamkeit streifte sie durch die Stadt, blieb hier und da auf einer Brücke stehen, beugte sich tief über das Geländer und ließ sich von dem trüben Wasser verführen, sich noch weiter auf die Zehenspitzen zu stellen. Ihre Füße verloren die Bodenhaftung, das Geländer schnitt tief in ihren Bauch, und ihr wurde schwindelig. Sie hielt den Spiegel und die Pistole fest, obwohl ihre Hände sich von der Kälte bereits ganz taub anfühlten. Sie konnte sich nicht entschließen, einfach beides hinabfallen zu lassen. Immer wieder blickte sie in den kleinen Spiegel, auf ihre blau gefrorenen Lippen und ihr Gesicht, das unter der Wollmütze hervorlugte und sich durch die Schwerkraft albern zu verzerren schien. Sie hasste sich und wollte eine andere sein. Sie wusste, was ihre Mutter sagen würde: Du stehst dir selbst im Weg. Du bist nicht hässlich. Deine Mitschüler hänseln dich nur, weil du so still und unsicher bist.
Sie lauschte dem Kreischen der Krähen, während sie tief Luft holte, um dann zuzusehen, wie ihr heißer Atem in dunstigen Schleiern davongetragen wurde. Sie wollte nicht nach Hause. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte.
23. Kapitel
A nna sah aus ihrem Küchenfenster und betrachtete die Übertragungswagen, die sich auch heute wieder vor ihrem Haus postiert hatten. In der Hoffnung auf ein Interview versammelte sich seit nunmehr vier Tagen täglich eine Handvoll von Fotografen und Fernsehleuten vor ihrer Tür. Bisher hatte sie die Geduld der Paparazzi nicht belohnt, und diese waren allabendlich enttäuscht wieder abgezogen. Im Regionalteil des Lübecker Anzeigers hatte es am Vortag geheißen, dass sie für eine Stellungnahme bis auf Weiteres nicht zur Verfügung stünde. Anna hatte sich verschanzt und fühlte sich wie eine Gefangene im eigenen Haus. Die Ermittlungen waren inzwischen ein Stück vorangekommen. Alles wies darauf hin, dass Jens Asmus nicht nur der Täter im Fall Möbius war. Er war darüber hinaus verdächtig, mit einer ganzen Serie von Diebstählen in Krankenhäusern und Altenheimen in Verbindung zu stehen.
Die Kripo hatte mit Hochdruck nach einer möglichen Verbindung zwischen den Diebstahlstaten der letzten Monate gesucht. Dabei war man auf den Pflegedienst gestoßen, für den Asmus arbeitete. Diese Diebstähle hatten sich jeweils kurze Zeit nachdem einer von Asmus’ Schützlingen ins Krankenhaus oder Altenheim gekommen war ereignet. Die Diebstähle allein wären der Presse vermutlich kaum eine Nachricht wert gewesen; was die Ermittler unter Druck setzte, war der Mordverdacht gegen Asmus im Fall Möbius und der des versuchten Mordes im Fall Kramer. Ebenso wie andere seiner Opfer hatte die alte Frau Kramer erst wenige Monate im Altenheim gewohnt und war zuvor persönlich von Asmus betreut worden. Während für die Kripo keinesfalls feststand, dass Asmus sein Opfer hatte töten wollen, war er aus Sicht der Presse längst überführt. Asmus war für die Medien nicht nur ein Seriendieb, sondern mutmaßlich ein kaltblütiger Serienmörder, der als sogenannter »Altenheimmörder« Schlagzeilen machte. Seit die Presse Sophies Verschwinden mit Asmus in Verbindung gebracht hatte, gab es für Anna keine ruhige Minute mehr.
Sie zog den Vorhang über der Küchenspüle wieder zu und setzte sich zurück an den Küchentisch. Sie schenkte sich ein Glas Weißwein ein und schlug eine der vier Tageszeitungen auf, die sie neben den Lebensmitteln im Supermarkt bestellt und am Morgen hatte anliefern lassen. Es war bereits nach sieben, und Anna war erleichtert, Emily, die fröhlich in ihrem Kinderstuhl saß und an einem Stück Gurke lutschte, bald ins Bett bringen zu können. Jeden Tag beschäftigte sich die Presse mit Sophies Verschwinden. Anna traute ihren Augen kaum, als sie im Regionalteil des Lübecker Anzeigers ein Foto von Petra Kessler entdeckte. Die Überschrift lautete:
»Petra K. – Die Tochter des ersten Opfers erzählt!«
Anna wurde nicht schlau aus der Nachbarin, die tatsächlich vorzuhaben schien, länger im Haus ihrer Mutter zu bleiben, obwohl es zunächst den Anschein gehabt
Weitere Kostenlose Bücher