Gewitterstille - Kriminalroman
es irgendwelche Hinweise, dass sie gemeinsam mit ihm auf der Flucht ist?«, fragte Bendt.
»Nein. Und das beunruhigt mich am meisten. Ich habe ihre Sachen x-mal durchgesehen, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich auf ihr Verschwinden vorbereitet hat. Es fehlt nicht einmal ihre Zahnbürste. Außer einer Handtasche hatte Sophie absolut nichts bei sich.«
»Das muss nichts bedeuten. Vielleicht wollen die zwei uns einfach nur in die Irre führen.« Bendt blickte Anna an. Sie war davon überzeugt, dass er selbst nicht an das glaubte, was er von sich gab.
»Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Was, wenn dieser Mann nicht nur bereit war, Frau Möbius zu töten, sondern auch Sophie etwas angetan hat, nachdem er sich ihr Geld unter den Nagel gerissen hatte?«
»Wir haben es nicht mit einem Serienmörder zu tun, Anna.«
Anna sah zu Boden. »Ich habe ganz fürchterliche Angst um Sophie. Was, wenn sie ihm das Geld plötzlich doch nicht geben wollte und mit ihm in Streit geraten ist? Was, wenn er ausgerastet ist? Wir wissen doch gar nicht, wozu er in der Lage ist.« Gegen ihren Willen begann Anna zu weinen.
Bendt machte einen Schritt auf sie zu und fasste sie bei den Schultern. Er zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich weiß, dass wir sie finden, Anna!«, sagte er mit fester Stimme. »Vertrau mir, wir finden sie ganz bestimmt.«
22. Kapitel
P etra Kessler schloss abermals einen Karton, riss das braune Klebeband vom Abroller und zog es in dicken, dunklen Bahnen über den schmalen Spalt, an dem die zugeklappten Hälften aufeinandertrafen. Dann nahm sie den dicken schwarzen Filzstift zur Hand und schrieb in Großbuchstaben » FOTOS UND ALBEN 1930-1965« darauf. Es schien ihr selbst sonderbar, was sie tat. Jedenfalls hatte es nichts mit dem zu tun, was sie ursprünglich vorgehabt hatte. Keine einzige Nacht hatte sie in dem Haus verbringen, sondern alles hinter sich lassen wollen. Es war um nicht mehr gegangen, als ein paar Wertgegenstände zu sichern und den restlichen Plunder zu entsorgen. Sie hatte sich vorgenommen, so schnell wie möglich wieder abzureisen. Doch dann war sie die Stiege zum Dachboden hinaufgestiegen, hatte das Holz und den Staub gerochen und sich verleiten lassen, die alte, schwere Holzkiste in der Ecke zu öffnen. Die kleine Stoffpuppe mit den gelben Haaren hatte ihr unter harmloser Tischwäsche und Decken aufgelauert wie ein böser Wolf. Sie hatte sie angestarrt aus ihren schwarzen Filzaugen und die Vergangenheit mit voller Wucht zurückgebracht. Petra war unfähig gewesen, sich ihrem Blick zu entziehen. Sie war wie ein Dämon, der ihr die Gegenwart raubte und ihr die Bilder der Vergangenheit aufzwang. All die Jahre waren weggewischt wie eine Handvoll Staub. Es dauerte lange, sich durch die Kartons hindurchzuarbeiten. Sie griff nach der Schere, die auf dem Stapel zerschnittener Fotos lag, und steckte sie zurück in die Lederhülle. Dann stand sie auf, schob die grässlichen Bildschnipsel zusammen und warf sie in den Jutebeutel, den es zu verbrennen galt, um die schrecklichen Erinnerungen endlich auszulöschen, die sie auch jetzt wieder überfielen.
Petra wollte nichts als davonlaufen. Sie stolperte über den Schulflur, die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und hinaus auf den Hof. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen und schienen in der kalten Winterluft zu gefrieren. Sie floh durch das Schultor, die Straße hinunter und wusste doch, dass sich die Demütigung in ihre Seele einbrennen würde und das Geschehene nicht mehr abzuschütteln war. Noch immer hielt sie den Spiegel und die Pistole in ihren Händen. Die eiskalte Winterluft brannte auf ihrer Haut, und ihr Atem ging keuchend. Wo sollte sie hin? Sie konnte nicht zurück in die Schule, so viel stand fest, aber auch zu ihrer Tante oder auf den Weihnachtsmarkt konnte sie jetzt nicht gehen. Der Gedanke an den festlichen Lichterglanz der Stadt, die beein druckenden Silhouetten der sieben Kirchtürme, geschmückte Tannenbäume und den Duft von gebrannten Mandeln ließ Petra nur noch schwermütiger werden. Immer wieder kam ihr das Bild des steinernen Männleins in den Sinn, das auf der Außenmauer der Rats- und Marktkirche St. Marien saß. Auf der Suche nach dem Tod war es auf das Gesims geklettert und dort beim Warten zu Stein geworden. Wenn doch ihre Mutter nur da wäre! Wie sehr hatte sie sie angefleht, nicht wegzufahren. Es sind doch nur zwei Tage, Liebchen, und du bist doch bei Tante Gerda bestens aufgehoben, hatte sie gesagt. Petra lief
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